den Augen sah ich das rauhe magere Stück Feld, auf dem mein Haberbrodt wächst, und den über mich fließenden Him- mel an; die Erinnerung machte mich seuf- zen, aber ein Blick auf meinen abgezehrten Führer hieß mich zu mir selbst sagen; ich habe mein Gutes in meiner Jugend reich- lich genossen, und dieser gute Mann und seine Familie sind, so lange sie leben in Elend und Mangel gewesen; sie sind Geschöpfe des nehmlichen göttlichen Urhebers, ihrem Körper fehlt keine Sehne, keine Muskel, die sie zum Genuß physikalischer Bedürf- nisse nöthig haben; da ist kein Unterschied unter uns; aber wie viele Theile der Fähig- keiten ihrer Seele schlafen, und sind unthä- tig geblieben! Wie verborgen, wie unbe- greiflich sind die Ursachen, die in unsrer kör- perlichen Einrichtung keinen Unterschied entstehen ließen, und im motalischen Wachs- thum und Handeln ganze Millionen Ge- schöpfe zurücklassen! wie glücklich bin ich heute noch durch den erhaltenen Anbau meines Geistes und meiner Empfindung gegen Gott und Menschen! Wahres
Glück,
den Augen ſah ich das rauhe magere Stuͤck Feld, auf dem mein Haberbrodt waͤchſt, und den uͤber mich fließenden Him- mel an; die Erinnerung machte mich ſeuf- zen, aber ein Blick auf meinen abgezehrten Fuͤhrer hieß mich zu mir ſelbſt ſagen; ich habe mein Gutes in meiner Jugend reich- lich genoſſen, und dieſer gute Mann und ſeine Familie ſind, ſo lange ſie leben in Elend und Mangel geweſen; ſie ſind Geſchoͤpfe des nehmlichen goͤttlichen Urhebers, ihrem Koͤrper fehlt keine Sehne, keine Muskel, die ſie zum Genuß phyſikaliſcher Beduͤrf- niſſe noͤthig haben; da iſt kein Unterſchied unter uns; aber wie viele Theile der Faͤhig- keiten ihrer Seele ſchlafen, und ſind unthaͤ- tig geblieben! Wie verborgen, wie unbe- greiflich ſind die Urſachen, die in unſrer koͤr- perlichen Einrichtung keinen Unterſchied entſtehen ließen, und im motaliſchen Wachs- thum und Handeln ganze Millionen Ge- ſchoͤpfe zuruͤcklaſſen! wie gluͤcklich bin ich heute noch durch den erhaltenen Anbau meines Geiſtes und meiner Empfindung gegen Gott und Menſchen! Wahres
Gluͤck,
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den Augen ſah ich das rauhe magere
Stuͤck Feld, auf dem mein Haberbrodt
waͤchſt, und den uͤber mich fließenden Him-
mel an; die Erinnerung machte mich ſeuf-
zen, aber ein Blick auf meinen abgezehrten
Fuͤhrer hieß mich zu mir ſelbſt ſagen; ich
habe mein Gutes in meiner Jugend reich-
lich genoſſen, und dieſer gute Mann und
ſeine Familie ſind, ſo lange ſie leben in Elend
und Mangel geweſen; ſie ſind Geſchoͤpfe
des nehmlichen goͤttlichen Urhebers, ihrem
Koͤrper fehlt keine Sehne, keine Muskel,
die ſie zum Genuß phyſikaliſcher Beduͤrf-
niſſe noͤthig haben; da iſt kein Unterſchied
unter uns; aber wie viele Theile der Faͤhig-
keiten ihrer Seele ſchlafen, und ſind unthaͤ-
tig geblieben! Wie verborgen, wie unbe-
greiflich ſind die Urſachen, die in unſrer koͤr-
perlichen Einrichtung keinen Unterſchied
entſtehen ließen, und im motaliſchen Wachs-
thum und Handeln ganze Millionen Ge-
ſchoͤpfe zuruͤcklaſſen! wie gluͤcklich bin ich
heute noch durch den erhaltenen Anbau
meines Geiſtes und meiner Empfindung
gegen Gott und Menſchen! Wahres
Gluͤck,
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[La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 2. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte02_1771/228>, abgerufen am 27.11.2024.
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