worinn sie eine so lange Zeit wohnte, ihre arme Lagerstätte, wo sie den edelsten Geist aushauchte, der jemals eine weib- liche Brust belebte. -- O Doctor! selbst Jhr theologischer Geist würde, wie mein philosophischer Muth, in Thränen aus- gebrochen seyn, wenn Sie dieses, wenn Sie den Sandhügel gesehen hätten, der an dem Fuße eines einsamen magern Baums die Ueberbleibsel des liebenswür- digsten Frauenzimmers bedeckt. Der arme Lord Seymour sank darauf hin, und wünschte seine Seele da auszuweinen und neben ihr begraben zu werden; ich mußte ihn mit unsern zween Leuten davon wegziehen. Jm Hause wollt' er sich auf ihr Sterbebette werfen; ich ließ es aber wegnehmen, und führte ihn auf den Platz, wo die Leute sagen, daß sie mei- stens gesessen wäre; da liegt er seit zwo Stunden, unbeweglich auf seine Arme gestützt, sieht und hört nichts. Die Leute scheinen mir keine guten Leute zu seyn; ich fürchte, sie haben ihre Hände auch zu dem Einkerkern geboten. Sie
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IITheil. R
worinn ſie eine ſo lange Zeit wohnte, ihre arme Lagerſtaͤtte, wo ſie den edelſten Geiſt aushauchte, der jemals eine weib- liche Bruſt belebte. — O Doctor! ſelbſt Jhr theologiſcher Geiſt wuͤrde, wie mein philoſophiſcher Muth, in Thraͤnen aus- gebrochen ſeyn, wenn Sie dieſes, wenn Sie den Sandhuͤgel geſehen haͤtten, der an dem Fuße eines einſamen magern Baums die Ueberbleibſel des liebenswuͤr- digſten Frauenzimmers bedeckt. Der arme Lord Seymour ſank darauf hin, und wuͤnſchte ſeine Seele da auszuweinen und neben ihr begraben zu werden; ich mußte ihn mit unſern zween Leuten davon wegziehen. Jm Hauſe wollt’ er ſich auf ihr Sterbebette werfen; ich ließ es aber wegnehmen, und fuͤhrte ihn auf den Platz, wo die Leute ſagen, daß ſie mei- ſtens geſeſſen waͤre; da liegt er ſeit zwo Stunden, unbeweglich auf ſeine Arme geſtuͤtzt, ſieht und hoͤrt nichts. Die Leute ſcheinen mir keine guten Leute zu ſeyn; ich fuͤrchte, ſie haben ihre Haͤnde auch zu dem Einkerkern geboten. Sie
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worinn ſie eine ſo lange Zeit wohnte, ihre
arme Lagerſtaͤtte, wo ſie den edelſten
Geiſt aushauchte, der jemals eine weib-
liche Bruſt belebte. — O Doctor! ſelbſt
Jhr theologiſcher Geiſt wuͤrde, wie mein
philoſophiſcher Muth, in Thraͤnen aus-
gebrochen ſeyn, wenn Sie dieſes, wenn
Sie den Sandhuͤgel geſehen haͤtten, der
an dem Fuße eines einſamen magern
Baums die Ueberbleibſel des liebenswuͤr-
digſten Frauenzimmers bedeckt. Der
arme Lord Seymour ſank darauf hin,
und wuͤnſchte ſeine Seele da auszuweinen
und neben ihr begraben zu werden; ich
mußte ihn mit unſern zween Leuten davon
wegziehen. Jm Hauſe wollt’ er ſich auf
ihr Sterbebette werfen; ich ließ es aber
wegnehmen, und fuͤhrte ihn auf den
Platz, wo die Leute ſagen, daß ſie mei-
ſtens geſeſſen waͤre; da liegt er ſeit zwo
Stunden, unbeweglich auf ſeine Arme
geſtuͤtzt, ſieht und hoͤrt nichts. Die
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[La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 2. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte02_1771/263>, abgerufen am 17.09.2024.
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