wenn der Fortschritt der Wissenschaften in der Zukunft durch die Weiterentwickelung der Denkmittel eine neue Umwälzung des Wissens vollzieht und die wissenschaftliche Darstellung des Erlebnisses anders gestaltet, so wird darum nicht unsre heutige Naturerkenntnis falsch, sondern es ist eine neue Ob- jektivierung des Bewußtseinsinhalts entstanden.
Für Aristoteles verwandelte sich ein Tropfen Wein auf zehntausend Kannen Wassers wirklich in Wasser.1 Dies war eine unwiderlegbare Beobachtung; konnte sie das Denken widerspruchslos in ein System einreihen, so war es eine gesetz- liche Thatsache. Das System der substanzialen Formen, welche die Materie zur Wirklichkeit bestimmen, lieferte den für Aristoteles und das Mittelalter genügenden Naturbegriff. Für die unmittelbare Empfindung findet die Verwandlung des Tropfens Wein in Wasser bei jener Mischung noch heute statt. Daß wir sie nicht für Natur halten, bewirkt das wissenschaft- liche Denken. Erst die Gesamtheit der seit dem 17. Jahrhundert bekannt gewordenen physikalischen und chemischen Erfahrungen und die Systematisierung derselben im modernen Begriff der körperlichen Substanz erfordert, daß auch gegen den Sinnen- schein die Erhaltung des Weins im Wasser wissenschaftliches Ergebnis ist; erst darum ist die Beharrung des Weintropfens im verteilten Zustande objektiviert, ist Natur. Natur- wissenschaft erzeugen heißt Empfindung objektivieren. Wofern Aristoteles Wissenschaft geschaffen hat, insofern hat er Empfin- dung zur Natur objektiviert.
Aber die Erweiterung der sinnlichen Erfahrung schuf immer neuen Empfindungsinhalt, den zur Naturgesetzlichkeit zu ob- jektivieren dem System der substanzialen Formen nicht gelang. Daher vollzog sich zugleich mit dem Anwachsen des Empfin- dungsinhalts eine Umwandlung der Denkmittel der Menschheit. Vieles, was für Aristoteles Natur war, ist es für uns nicht mehr, weil es, wie z. B. der Einfluß der Planetensphären auf die sublunare Welt, nicht mehr in der Gesetzlichkeit unsres Denkens begründet ist. Thau und Regen fallen wie zur Zeit des Stagiriten; aber die Luft verwandelt sich nicht mehr in Wasser. Die Elemente haben eine andre Natur angenommen; erst von
1De gen. et corr. p. 328 a 28.
6*
Naturwissenschaft bei Aristoteles.
wenn der Fortschritt der Wissenschaften in der Zukunft durch die Weiterentwickelung der Denkmittel eine neue Umwälzung des Wissens vollzieht und die wissenschaftliche Darstellung des Erlebnisses anders gestaltet, so wird darum nicht unsre heutige Naturerkenntnis falsch, sondern es ist eine neue Ob- jektivierung des Bewußtseinsinhalts entstanden.
Für Aristoteles verwandelte sich ein Tropfen Wein auf zehntausend Kannen Wassers wirklich in Wasser.1 Dies war eine unwiderlegbare Beobachtung; konnte sie das Denken widerspruchslos in ein System einreihen, so war es eine gesetz- liche Thatsache. Das System der substanzialen Formen, welche die Materie zur Wirklichkeit bestimmen, lieferte den für Aristoteles und das Mittelalter genügenden Naturbegriff. Für die unmittelbare Empfindung findet die Verwandlung des Tropfens Wein in Wasser bei jener Mischung noch heute statt. Daß wir sie nicht für Natur halten, bewirkt das wissenschaft- liche Denken. Erst die Gesamtheit der seit dem 17. Jahrhundert bekannt gewordenen physikalischen und chemischen Erfahrungen und die Systematisierung derselben im modernen Begriff der körperlichen Substanz erfordert, daß auch gegen den Sinnen- schein die Erhaltung des Weins im Wasser wissenschaftliches Ergebnis ist; erst darum ist die Beharrung des Weintropfens im verteilten Zustande objektiviert, ist Natur. Natur- wissenschaft erzeugen heißt Empfindung objektivieren. Wofern Aristoteles Wissenschaft geschaffen hat, insofern hat er Empfin- dung zur Natur objektiviert.
Aber die Erweiterung der sinnlichen Erfahrung schuf immer neuen Empfindungsinhalt, den zur Naturgesetzlichkeit zu ob- jektivieren dem System der substanzialen Formen nicht gelang. Daher vollzog sich zugleich mit dem Anwachsen des Empfin- dungsinhalts eine Umwandlung der Denkmittel der Menschheit. Vieles, was für Aristoteles Natur war, ist es für uns nicht mehr, weil es, wie z. B. der Einfluß der Planetensphären auf die sublunare Welt, nicht mehr in der Gesetzlichkeit unsres Denkens begründet ist. Thau und Regen fallen wie zur Zeit des Stagiriten; aber die Luft verwandelt sich nicht mehr in Wasser. Die Elemente haben eine andre Natur angenommen; erst von
1De gen. et corr. p. 328 a 28.
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[83/0101]
Naturwissenschaft bei Aristoteles.
wenn der Fortschritt der Wissenschaften in der Zukunft durch
die Weiterentwickelung der Denkmittel eine neue Umwälzung
des Wissens vollzieht und die wissenschaftliche Darstellung
des Erlebnisses anders gestaltet, so wird darum nicht unsre
heutige Naturerkenntnis falsch, sondern es ist eine neue Ob-
jektivierung des Bewußtseinsinhalts entstanden.
Für Aristoteles verwandelte sich ein Tropfen Wein auf
zehntausend Kannen Wassers wirklich in Wasser. 1 Dies war
eine unwiderlegbare Beobachtung; konnte sie das Denken
widerspruchslos in ein System einreihen, so war es eine gesetz-
liche Thatsache. Das System der substanzialen Formen, welche
die Materie zur Wirklichkeit bestimmen, lieferte den für
Aristoteles und das Mittelalter genügenden Naturbegriff. Für
die unmittelbare Empfindung findet die Verwandlung des
Tropfens Wein in Wasser bei jener Mischung noch heute statt.
Daß wir sie nicht für Natur halten, bewirkt das wissenschaft-
liche Denken. Erst die Gesamtheit der seit dem 17. Jahrhundert
bekannt gewordenen physikalischen und chemischen Erfahrungen
und die Systematisierung derselben im modernen Begriff der
körperlichen Substanz erfordert, daß auch gegen den Sinnen-
schein die Erhaltung des Weins im Wasser wissenschaftliches
Ergebnis ist; erst darum ist die Beharrung des Weintropfens
im verteilten Zustande objektiviert, ist Natur. Natur-
wissenschaft erzeugen heißt Empfindung objektivieren. Wofern
Aristoteles Wissenschaft geschaffen hat, insofern hat er Empfin-
dung zur Natur objektiviert.
Aber die Erweiterung der sinnlichen Erfahrung schuf immer
neuen Empfindungsinhalt, den zur Naturgesetzlichkeit zu ob-
jektivieren dem System der substanzialen Formen nicht gelang.
Daher vollzog sich zugleich mit dem Anwachsen des Empfin-
dungsinhalts eine Umwandlung der Denkmittel der Menschheit.
Vieles, was für Aristoteles Natur war, ist es für uns nicht mehr,
weil es, wie z. B. der Einfluß der Planetensphären auf die
sublunare Welt, nicht mehr in der Gesetzlichkeit unsres Denkens
begründet ist. Thau und Regen fallen wie zur Zeit des
Stagiriten; aber die Luft verwandelt sich nicht mehr in Wasser.
Die Elemente haben eine andre Natur angenommen; erst von
1 De gen. et corr. p. 328 a 28.
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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/101>, abgerufen am 21.11.2024.
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