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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Mutakallimun: Verwertung der Atomistik.
so lange es nicht gelungen ist, den Begriff der Veränderung
zu erfassen, ist der Einwand des Aristoteles unwiderlegbar,
daß Atome nicht aufeinander wirken können.1 Dieser Ein-
wand fällt aber fort, wenn das metaphysische Interesse die
Wechselwirkung ersetzt durch den Glauben an eine unmittel-
bare und fortwährende Einwirkung Gottes auf die Welt. Als-
dann bringt die Annahme isolierter Atome die Forderung mit
sich, daß die Kraft Gottes unausgesetzt thätig sei, die Atome
zu gruppieren, und so empfiehlt sich die Atomistik als Grund-
lage der Physik, um aus naturphilosophischen Gründen den
Verstand zur Annahme des Gottesbegriffes zu zwingen, von
welchem das Gemüt durchdrungen ist. Von diesem bei ihnen
feststehenden Begriffe des absolut freien Schöpfers sind die
Mutakallimun ausgegangen und haben sich gefragt, wie die
Welt beschaffen sein müsse, um ihrer Annahme zu genügen,
worauf sie dann behaupteten, daß sie dieser Annahme gemäß
sei.2 Es genügte jedoch nicht, nur Gott auf die Atome wirken
zu lassen, sondern es waren, teils durch den Gottesbegriff des
Islam, teils durch die Einwendungen des Aristoteles gegen
die Atomistik, noch andere wichtige Modifikationen der Atomen-
lehre der Griechen notwendig für die Zwecke der Mutakallimun;
und indem sie dieselben anbrachten, erwarben sie sich das
Verdienst, die äußersten Konsequenzen einer rein metaphy-
sischen Atomistik ausgebildet zu haben.

Nach der Ansicht der Mutakallimun besteht die gesammte
Welt, d. h. jeder Körper, aus sehr kleinen Teilchen (dschuß),
Atomen, welche auf Grund ihrer Feinheit nicht teilbar sind.3
Sie sind einfache, von jedem Zusammenhange gelöste Sub-
stanzen, ohne jede Größe, also punktuelle Monaden. Erst
durch ihre Vereinigung erhält das Zusammen derselben Größe
und wird ein Körper. Einige meinten auch, daß bei der Ver-

1 De gen. et corr. I, 9. p. 326 a. S. S. 121.
2 More I, c. 71. p. 344.
3 Die folgende Darstellung der Atomistik der Mutakallimun nach
Kap. 73 des More Nevochim, ps. I, in der Übersetzung von Munk p. 375 bis
419, in der lateinischen Übersetzung von Buxtorf (Basel 1629) aus dem He-
bräischen des Samuel Ibn Tibbon p. 148--165. Speziellere Nachweisungen
gebe ich nur dort, wo andre Stellen als das genannte Kapitel zu Rate
gezogen sind.

Mutakallimun: Verwertung der Atomistik.
so lange es nicht gelungen ist, den Begriff der Veränderung
zu erfassen, ist der Einwand des Aristoteles unwiderlegbar,
daß Atome nicht aufeinander wirken können.1 Dieser Ein-
wand fällt aber fort, wenn das metaphysische Interesse die
Wechselwirkung ersetzt durch den Glauben an eine unmittel-
bare und fortwährende Einwirkung Gottes auf die Welt. Als-
dann bringt die Annahme isolierter Atome die Forderung mit
sich, daß die Kraft Gottes unausgesetzt thätig sei, die Atome
zu gruppieren, und so empfiehlt sich die Atomistik als Grund-
lage der Physik, um aus naturphilosophischen Gründen den
Verstand zur Annahme des Gottesbegriffes zu zwingen, von
welchem das Gemüt durchdrungen ist. Von diesem bei ihnen
feststehenden Begriffe des absolut freien Schöpfers sind die
Mutakallimun ausgegangen und haben sich gefragt, wie die
Welt beschaffen sein müsse, um ihrer Annahme zu genügen,
worauf sie dann behaupteten, daß sie dieser Annahme gemäß
sei.2 Es genügte jedoch nicht, nur Gott auf die Atome wirken
zu lassen, sondern es waren, teils durch den Gottesbegriff des
Islam, teils durch die Einwendungen des Aristoteles gegen
die Atomistik, noch andere wichtige Modifikationen der Atomen-
lehre der Griechen notwendig für die Zwecke der Mutakallimun;
und indem sie dieselben anbrachten, erwarben sie sich das
Verdienst, die äußersten Konsequenzen einer rein metaphy-
sischen Atomistik ausgebildet zu haben.

Nach der Ansicht der Mutakallimun besteht die gesammte
Welt, d. h. jeder Körper, aus sehr kleinen Teilchen (dschuß),
Atomen, welche auf Grund ihrer Feinheit nicht teilbar sind.3
Sie sind einfache, von jedem Zusammenhange gelöste Sub-
stanzen, ohne jede Größe, also punktuelle Monaden. Erst
durch ihre Vereinigung erhält das Zusammen derselben Größe
und wird ein Körper. Einige meinten auch, daß bei der Ver-

1 De gen. et corr. I, 9. p. 326 a. S. S. 121.
2 More I, c. 71. p. 344.
3 Die folgende Darstellung der Atomistik der Mutakallimun nach
Kap. 73 des More Nevochim, ps. I, in der Übersetzung von Munk p. 375 bis
419, in der lateinischen Übersetzung von Buxtorf (Basel 1629) aus dem He-
bräischen des Samuel Ibn Tibbon p. 148—165. Speziellere Nachweisungen
gebe ich nur dort, wo andre Stellen als das genannte Kapitel zu Rate
gezogen sind.
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[138/0156] Mutakallimun: Verwertung der Atomistik. so lange es nicht gelungen ist, den Begriff der Veränderung zu erfassen, ist der Einwand des Aristoteles unwiderlegbar, daß Atome nicht aufeinander wirken können. 1 Dieser Ein- wand fällt aber fort, wenn das metaphysische Interesse die Wechselwirkung ersetzt durch den Glauben an eine unmittel- bare und fortwährende Einwirkung Gottes auf die Welt. Als- dann bringt die Annahme isolierter Atome die Forderung mit sich, daß die Kraft Gottes unausgesetzt thätig sei, die Atome zu gruppieren, und so empfiehlt sich die Atomistik als Grund- lage der Physik, um aus naturphilosophischen Gründen den Verstand zur Annahme des Gottesbegriffes zu zwingen, von welchem das Gemüt durchdrungen ist. Von diesem bei ihnen feststehenden Begriffe des absolut freien Schöpfers sind die Mutakallimun ausgegangen und haben sich gefragt, wie die Welt beschaffen sein müsse, um ihrer Annahme zu genügen, worauf sie dann behaupteten, daß sie dieser Annahme gemäß sei. 2 Es genügte jedoch nicht, nur Gott auf die Atome wirken zu lassen, sondern es waren, teils durch den Gottesbegriff des Islam, teils durch die Einwendungen des Aristoteles gegen die Atomistik, noch andere wichtige Modifikationen der Atomen- lehre der Griechen notwendig für die Zwecke der Mutakallimun; und indem sie dieselben anbrachten, erwarben sie sich das Verdienst, die äußersten Konsequenzen einer rein metaphy- sischen Atomistik ausgebildet zu haben. Nach der Ansicht der Mutakallimun besteht die gesammte Welt, d. h. jeder Körper, aus sehr kleinen Teilchen (dschuß), Atomen, welche auf Grund ihrer Feinheit nicht teilbar sind. 3 Sie sind einfache, von jedem Zusammenhange gelöste Sub- stanzen, ohne jede Größe, also punktuelle Monaden. Erst durch ihre Vereinigung erhält das Zusammen derselben Größe und wird ein Körper. Einige meinten auch, daß bei der Ver- 1 De gen. et corr. I, 9. p. 326 a. S. S. 121. 2 More I, c. 71. p. 344. 3 Die folgende Darstellung der Atomistik der Mutakallimun nach Kap. 73 des More Nevochim, ps. I, in der Übersetzung von Munk p. 375 bis 419, in der lateinischen Übersetzung von Buxtorf (Basel 1629) aus dem He- bräischen des Samuel Ibn Tibbon p. 148—165. Speziellere Nachweisungen gebe ich nur dort, wo andre Stellen als das genannte Kapitel zu Rate gezogen sind.

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/156>, abgerufen am 04.12.2024.