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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Mutakallimun: Historische Bedeutung.
Es ist gewiß nicht ohne Bedeutung für die Geschichte der Ato-
mistik, daß ihre zersetzende Richtung einmal bis zur letzten Kon-
sequenz durchgeführt worden ist. Damit wurde gezeigt, daß der
atomistische Gedanke auch zur Vernichtung der Physik und der
Wissenschaft überhaupt führen kann und führen muß, wenn
man ihn auf ein Feld überträgt, das seinem Wesen widerspricht.
Wenn der Versuch gemacht wird, das Problem der Kontinuität,
welches sich im Raume, in der Zeit und in der Bewegung
darbietet, dadurch aufzuheben, daß man diese Größen,
welche im Gegensatz zur Körperwelt als kontinuierliche ge-
geben und nur als solche begrifflich zu fassen sind, ebenfalls
atomistisch zu konstruieren sucht, so muß sich jedesmal die
Zerstückelung der Welt ergeben. Wir sehen daher auch in
der neueren Philosophie, als man das Unzureichende des car-
tesischen Substanzbegriffs zur Begründung der Wechselwirkung
erkannte, den Occasionalismus in Bezug auf den fort-
währenden unmittelbaren Eingriff Gottes ganz in die Fuß-
tapfen der Mutakallimun treten. Es ist bemerkenswert, daß der
Begründer des Occasionalismus, Cordemoy, von Descartes wieder
zur Atomistik abfällt (s. 5. Buch). Der fortwährende unmittel-
bare Eingriff Gottes entspricht einer Atomisierung der Zeit
und der Kausalität, während bei Leibniz sich die Konsequenz
der Atomistik in einer ebenfalls an die Mutakallimun erinnern-
den Punktualisierung der Substanz äußert.

In Bezug auf die Atomistik der Mutakallimun darf man
sich wohl fragen, ob dieselbe durch ihre Seltsamkeit bloß von
der Atomistik abgeschreckt habe, oder ob sie nicht auch
andrerseits in positiver Hinsicht die Prüfung der Frage ange-
regt haben dürfte, wie weit die Berechtigung der atomisti-
schen Theorie reichen könne.

Der Widersinn, zu welchem die Zerstückung der Zeit in
diskontinuierliche Momente führt, konnte wohl darauf hinweisen,
daß auch für den Raum an die Zusammensetzung aus Punkten
nicht gedacht werden dürfe. Der physikalisch Interessierte
mußte dadurch auf die angemessenere Auffassung der Atome
als körperlich ausgedehnter kleiner Massen aufmerksam werden,
während der Theologe, welcher die mechanische Gesetzmäßig-
keit beseitigen wollte, das Wort Atom nicht mehr als das
Symbol des Atheismus zu verabscheuen brauchte. In ähnlicher

Laßwitz. 10

Mutakallimun: Historische Bedeutung.
Es ist gewiß nicht ohne Bedeutung für die Geschichte der Ato-
mistik, daß ihre zersetzende Richtung einmal bis zur letzten Kon-
sequenz durchgeführt worden ist. Damit wurde gezeigt, daß der
atomistische Gedanke auch zur Vernichtung der Physik und der
Wissenschaft überhaupt führen kann und führen muß, wenn
man ihn auf ein Feld überträgt, das seinem Wesen widerspricht.
Wenn der Versuch gemacht wird, das Problem der Kontinuität,
welches sich im Raume, in der Zeit und in der Bewegung
darbietet, dadurch aufzuheben, daß man diese Größen,
welche im Gegensatz zur Körperwelt als kontinuierliche ge-
geben und nur als solche begrifflich zu fassen sind, ebenfalls
atomistisch zu konstruieren sucht, so muß sich jedesmal die
Zerstückelung der Welt ergeben. Wir sehen daher auch in
der neueren Philosophie, als man das Unzureichende des car-
tesischen Substanzbegriffs zur Begründung der Wechselwirkung
erkannte, den Occasionalismus in Bezug auf den fort-
währenden unmittelbaren Eingriff Gottes ganz in die Fuß-
tapfen der Mutakallimun treten. Es ist bemerkenswert, daß der
Begründer des Occasionalismus, Cordemoy, von Descartes wieder
zur Atomistik abfällt (s. 5. Buch). Der fortwährende unmittel-
bare Eingriff Gottes entspricht einer Atomisierung der Zeit
und der Kausalität, während bei Leibniz sich die Konsequenz
der Atomistik in einer ebenfalls an die Mutakallimun erinnern-
den Punktualisierung der Substanz äußert.

In Bezug auf die Atomistik der Mutakallimun darf man
sich wohl fragen, ob dieselbe durch ihre Seltsamkeit bloß von
der Atomistik abgeschreckt habe, oder ob sie nicht auch
andrerseits in positiver Hinsicht die Prüfung der Frage ange-
regt haben dürfte, wie weit die Berechtigung der atomisti-
schen Theorie reichen könne.

Der Widersinn, zu welchem die Zerstückung der Zeit in
diskontinuierliche Momente führt, konnte wohl darauf hinweisen,
daß auch für den Raum an die Zusammensetzung aus Punkten
nicht gedacht werden dürfe. Der physikalisch Interessierte
mußte dadurch auf die angemessenere Auffassung der Atome
als körperlich ausgedehnter kleiner Massen aufmerksam werden,
während der Theologe, welcher die mechanische Gesetzmäßig-
keit beseitigen wollte, das Wort Atom nicht mehr als das
Symbol des Atheismus zu verabscheuen brauchte. In ähnlicher

Laßwitz. 10
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[145/0163] Mutakallimun: Historische Bedeutung. Es ist gewiß nicht ohne Bedeutung für die Geschichte der Ato- mistik, daß ihre zersetzende Richtung einmal bis zur letzten Kon- sequenz durchgeführt worden ist. Damit wurde gezeigt, daß der atomistische Gedanke auch zur Vernichtung der Physik und der Wissenschaft überhaupt führen kann und führen muß, wenn man ihn auf ein Feld überträgt, das seinem Wesen widerspricht. Wenn der Versuch gemacht wird, das Problem der Kontinuität, welches sich im Raume, in der Zeit und in der Bewegung darbietet, dadurch aufzuheben, daß man diese Größen, welche im Gegensatz zur Körperwelt als kontinuierliche ge- geben und nur als solche begrifflich zu fassen sind, ebenfalls atomistisch zu konstruieren sucht, so muß sich jedesmal die Zerstückelung der Welt ergeben. Wir sehen daher auch in der neueren Philosophie, als man das Unzureichende des car- tesischen Substanzbegriffs zur Begründung der Wechselwirkung erkannte, den Occasionalismus in Bezug auf den fort- währenden unmittelbaren Eingriff Gottes ganz in die Fuß- tapfen der Mutakallimun treten. Es ist bemerkenswert, daß der Begründer des Occasionalismus, Cordemoy, von Descartes wieder zur Atomistik abfällt (s. 5. Buch). Der fortwährende unmittel- bare Eingriff Gottes entspricht einer Atomisierung der Zeit und der Kausalität, während bei Leibniz sich die Konsequenz der Atomistik in einer ebenfalls an die Mutakallimun erinnern- den Punktualisierung der Substanz äußert. In Bezug auf die Atomistik der Mutakallimun darf man sich wohl fragen, ob dieselbe durch ihre Seltsamkeit bloß von der Atomistik abgeschreckt habe, oder ob sie nicht auch andrerseits in positiver Hinsicht die Prüfung der Frage ange- regt haben dürfte, wie weit die Berechtigung der atomisti- schen Theorie reichen könne. Der Widersinn, zu welchem die Zerstückung der Zeit in diskontinuierliche Momente führt, konnte wohl darauf hinweisen, daß auch für den Raum an die Zusammensetzung aus Punkten nicht gedacht werden dürfe. Der physikalisch Interessierte mußte dadurch auf die angemessenere Auffassung der Atome als körperlich ausgedehnter kleiner Massen aufmerksam werden, während der Theologe, welcher die mechanische Gesetzmäßig- keit beseitigen wollte, das Wort Atom nicht mehr als das Symbol des Atheismus zu verabscheuen brauchte. In ähnlicher Laßwitz. 10

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/163>, abgerufen am 04.12.2024.