Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

Bild:
<< vorherige Seite

Nicolaus de Autricuria.
curia1 von der Pariser Universität genötigt, sechzig vom
apostolischen Stuhle verurteilte Errores de rebus Philosophicis et
Theologicis
öffentlich zu widerrufen. Die betreffenden Schriften
wurden verbrannt. Er hatte gelehrt, daß die Unsicherheit in
der Erkenntnis der Natur in kurzer Zeit gehoben werden
könne, wenn man den Verstand auf die Dinge statt auf Ari-
stoteles
und den Kommentator (Averroes) anwendete. Den
Dingen schreibt er nicht ein Entstehen und Vergehen, sondern
einen ewigen Bestand zu, in dem Sinne, daß es in der Natur
nichts anderes gebe als die räumliche Bewegung der Trennung
und Ansammlung. Wenn die Atome zusammentreten und
dadurch die Natur eines Dinges bestimmen, so nennt man dies
Entstehen, wenn sie wieder auseinandergehen, dagegen
Vergehen; und wenn in Bezug auf ein Ding die Bewegung
derartig ist, daß der Zutritt der Atome zwar nichts für die
Bewegung desselben, aber etwas für einen natürlichen Vor-
gang an demselben ausmacht, dann heißt dieser Vorgang
Veränderung. Das Licht beruht auf der örtlichen Bewegung
gewisser Körper von solcher Beschaffenheit, daß sie der Sonne
oder andern leuchtenden Körpern folgen; es pflanzt sich nicht
instantan fort, sondern in der Zeit, wie der Schall. Alle Teile
des Universums, sowie das ganze, sind ewig und unzerstörbar
(Art. 39). Beim Auseinandertreten der Atome, welche den
menschlichen Körper bilden, bleiben gewisse Spiritus, genannt
Intellekt und Sinn, zurück in derjenigen guten oder schlechten
Disposition, in welcher sie sich befanden; dadurch wird der
Gute belohnt, der Böse bestraft, weil unendlich oft, wenn
immer der Zusammentritt seiner Atome sich wiederholt, er
dieselbe gute oder schlechte Disposition vorfindet.2

1 Bulaeus, Hist. Univ. Paris. Tom. IV. p. 308 ff. Nach Prantl a. a. O.
(Bd. 4. S. 2 u. 3, A. 4) heißt dieser Nicolaus Alticuria oder (richtiger)
Autricuria und stehen seine revozierten Sätze gedruckt außer bei Bulaeus
(nach welchem ich citiere) in den meisten Ausgaben des Petrus Lombardus
(als Anhang zum 4. Buche) und bei Du Plessis d'Argentre, Coll. judic. de
nov. error.
Vol. I p. 355 ff.
2 Bulaeus, a. a. O. p. 310 N. 36. Item quod res absolute permanentes, et
de quibus dicitur communiter, quod generantur et corrumpuntur, sunt aeternae,
sive sint substantiae sive sint accidentia. (Revoco tanquam falsum, haereticum
et erroneum.) 37. Item quod in rebus naturalibus non est nisi motus localis
Laßwitz. 17

Nicolaus de Autricuria.
curia1 von der Pariser Universität genötigt, sechzig vom
apostolischen Stuhle verurteilte Errores de rebus Philosophicis et
Theologicis
öffentlich zu widerrufen. Die betreffenden Schriften
wurden verbrannt. Er hatte gelehrt, daß die Unsicherheit in
der Erkenntnis der Natur in kurzer Zeit gehoben werden
könne, wenn man den Verstand auf die Dinge statt auf Ari-
stoteles
und den Kommentator (Averroes) anwendete. Den
Dingen schreibt er nicht ein Entstehen und Vergehen, sondern
einen ewigen Bestand zu, in dem Sinne, daß es in der Natur
nichts anderes gebe als die räumliche Bewegung der Trennung
und Ansammlung. Wenn die Atome zusammentreten und
dadurch die Natur eines Dinges bestimmen, so nennt man dies
Entstehen, wenn sie wieder auseinandergehen, dagegen
Vergehen; und wenn in Bezug auf ein Ding die Bewegung
derartig ist, daß der Zutritt der Atome zwar nichts für die
Bewegung desselben, aber etwas für einen natürlichen Vor-
gang an demselben ausmacht, dann heißt dieser Vorgang
Veränderung. Das Licht beruht auf der örtlichen Bewegung
gewisser Körper von solcher Beschaffenheit, daß sie der Sonne
oder andern leuchtenden Körpern folgen; es pflanzt sich nicht
instantan fort, sondern in der Zeit, wie der Schall. Alle Teile
des Universums, sowie das ganze, sind ewig und unzerstörbar
(Art. 39). Beim Auseinandertreten der Atome, welche den
menschlichen Körper bilden, bleiben gewisse Spiritus, genannt
Intellekt und Sinn, zurück in derjenigen guten oder schlechten
Disposition, in welcher sie sich befanden; dadurch wird der
Gute belohnt, der Böse bestraft, weil unendlich oft, wenn
immer der Zusammentritt seiner Atome sich wiederholt, er
dieselbe gute oder schlechte Disposition vorfindet.2

1 Bulaeus, Hist. Univ. Paris. Tom. IV. p. 308 ff. Nach Prantl a. a. O.
(Bd. 4. S. 2 u. 3, A. 4) heißt dieser Nicolaus Alticuria oder (richtiger)
Autricuria und stehen seine revozierten Sätze gedruckt außer bei Bulaeus
(nach welchem ich citiere) in den meisten Ausgaben des Petrus Lombardus
(als Anhang zum 4. Buche) und bei Du Plessis d’Argentré, Coll. judic. de
nov. error.
Vol. I p. 355 ff.
2 Bulaeus, a. a. O. p. 310 N. 36. Item quod res absolute permanentes, et
de quibus dicitur communiter, quod generantur et corrumpuntur, sunt aeternae,
sive sint substantiae sive sint accidentia. (Revoco tanquam falsum, haereticum
et erroneum.) 37. Item quod in rebus naturalibus non est nisi motus localis
Laßwitz. 17
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0275" n="257"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#k">Nicolaus de Autricuria</hi>.</fw><lb/><hi rendition="#k">curia</hi><note place="foot" n="1"><hi rendition="#k">Bulaeus</hi>, <hi rendition="#i">Hist. Univ. Paris.</hi> Tom. IV. p. 308 ff. Nach <hi rendition="#k">Prantl</hi> a. a. O.<lb/>
(Bd. 4. S. 2 u. 3, A. 4) heißt dieser <hi rendition="#k">Nicolaus Alticuria</hi> oder (richtiger)<lb/><hi rendition="#k">Autricuria</hi> und stehen seine revozierten Sätze gedruckt außer bei <hi rendition="#k">Bulaeus</hi><lb/>
(nach welchem ich citiere) in den meisten Ausgaben des <hi rendition="#k">Petrus Lombardus</hi><lb/>
(als Anhang zum 4. Buche) und bei <hi rendition="#k">Du Plessis d&#x2019;Argentré</hi>, <hi rendition="#i">Coll. judic. de<lb/>
nov. error.</hi> Vol. I p. 355 ff.</note> von der Pariser Universität genötigt, sechzig vom<lb/>
apostolischen Stuhle verurteilte <hi rendition="#i">Errores de rebus Philosophicis et<lb/>
Theologicis</hi> öffentlich zu widerrufen. Die betreffenden Schriften<lb/>
wurden verbrannt. Er hatte gelehrt, daß die Unsicherheit in<lb/>
der Erkenntnis der Natur in kurzer Zeit gehoben werden<lb/>
könne, wenn man den Verstand auf die Dinge statt auf <hi rendition="#k">Ari-<lb/>
stoteles</hi> und den Kommentator (<hi rendition="#k">Averroes</hi>) anwendete. Den<lb/>
Dingen schreibt er nicht ein Entstehen und Vergehen, sondern<lb/>
einen ewigen Bestand zu, in dem Sinne, daß es in der Natur<lb/>
nichts anderes gebe als die räumliche Bewegung der Trennung<lb/>
und Ansammlung. Wenn die Atome zusammentreten und<lb/>
dadurch die Natur eines Dinges bestimmen, so nennt man dies<lb/><hi rendition="#g">Entstehen,</hi> wenn sie wieder auseinandergehen, dagegen<lb/><hi rendition="#g">Vergehen;</hi> und wenn in Bezug auf ein Ding die Bewegung<lb/>
derartig ist, daß der Zutritt der Atome zwar nichts für die<lb/>
Bewegung desselben, aber etwas für einen natürlichen Vor-<lb/>
gang an demselben ausmacht, dann heißt dieser Vorgang<lb/><hi rendition="#g">Veränderung</hi>. Das Licht beruht auf der örtlichen Bewegung<lb/>
gewisser Körper von solcher Beschaffenheit, daß sie der Sonne<lb/>
oder andern leuchtenden Körpern folgen; es pflanzt sich nicht<lb/>
instantan fort, sondern in der Zeit, wie der Schall. Alle Teile<lb/>
des Universums, sowie das ganze, sind ewig und unzerstörbar<lb/>
(Art. 39). Beim Auseinandertreten der Atome, welche den<lb/>
menschlichen Körper bilden, bleiben gewisse <hi rendition="#i">Spiritus</hi>, genannt<lb/>
Intellekt und Sinn, zurück in derjenigen guten oder schlechten<lb/>
Disposition, in welcher sie sich befanden; dadurch wird der<lb/>
Gute belohnt, der Böse bestraft, weil unendlich oft, wenn<lb/>
immer der Zusammentritt seiner Atome sich wiederholt, er<lb/>
dieselbe gute oder schlechte Disposition vorfindet.<note xml:id="seg2pn_12_1" next="#seg2pn_12_2" place="foot" n="2"><hi rendition="#k">Bulaeus</hi>, a. a. O. p. 310 N. 36. Item quod res absolute permanentes, et<lb/>
de quibus dicitur communiter, quod generantur et corrumpuntur, sunt aeternae,<lb/>
sive sint substantiae sive sint accidentia. (Revoco tanquam falsum, haereticum<lb/>
et erroneum.) 37. Item quod in rebus naturalibus non est nisi motus localis</note></p><lb/>
          <fw place="bottom" type="sig">Laßwitz. 17</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[257/0275] Nicolaus de Autricuria. curia 1 von der Pariser Universität genötigt, sechzig vom apostolischen Stuhle verurteilte Errores de rebus Philosophicis et Theologicis öffentlich zu widerrufen. Die betreffenden Schriften wurden verbrannt. Er hatte gelehrt, daß die Unsicherheit in der Erkenntnis der Natur in kurzer Zeit gehoben werden könne, wenn man den Verstand auf die Dinge statt auf Ari- stoteles und den Kommentator (Averroes) anwendete. Den Dingen schreibt er nicht ein Entstehen und Vergehen, sondern einen ewigen Bestand zu, in dem Sinne, daß es in der Natur nichts anderes gebe als die räumliche Bewegung der Trennung und Ansammlung. Wenn die Atome zusammentreten und dadurch die Natur eines Dinges bestimmen, so nennt man dies Entstehen, wenn sie wieder auseinandergehen, dagegen Vergehen; und wenn in Bezug auf ein Ding die Bewegung derartig ist, daß der Zutritt der Atome zwar nichts für die Bewegung desselben, aber etwas für einen natürlichen Vor- gang an demselben ausmacht, dann heißt dieser Vorgang Veränderung. Das Licht beruht auf der örtlichen Bewegung gewisser Körper von solcher Beschaffenheit, daß sie der Sonne oder andern leuchtenden Körpern folgen; es pflanzt sich nicht instantan fort, sondern in der Zeit, wie der Schall. Alle Teile des Universums, sowie das ganze, sind ewig und unzerstörbar (Art. 39). Beim Auseinandertreten der Atome, welche den menschlichen Körper bilden, bleiben gewisse Spiritus, genannt Intellekt und Sinn, zurück in derjenigen guten oder schlechten Disposition, in welcher sie sich befanden; dadurch wird der Gute belohnt, der Böse bestraft, weil unendlich oft, wenn immer der Zusammentritt seiner Atome sich wiederholt, er dieselbe gute oder schlechte Disposition vorfindet. 2 1 Bulaeus, Hist. Univ. Paris. Tom. IV. p. 308 ff. Nach Prantl a. a. O. (Bd. 4. S. 2 u. 3, A. 4) heißt dieser Nicolaus Alticuria oder (richtiger) Autricuria und stehen seine revozierten Sätze gedruckt außer bei Bulaeus (nach welchem ich citiere) in den meisten Ausgaben des Petrus Lombardus (als Anhang zum 4. Buche) und bei Du Plessis d’Argentré, Coll. judic. de nov. error. Vol. I p. 355 ff. 2 Bulaeus, a. a. O. p. 310 N. 36. Item quod res absolute permanentes, et de quibus dicitur communiter, quod generantur et corrumpuntur, sunt aeternae, sive sint substantiae sive sint accidentia. (Revoco tanquam falsum, haereticum et erroneum.) 37. Item quod in rebus naturalibus non est nisi motus localis Laßwitz. 17

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/275
Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/275>, abgerufen am 24.11.2024.