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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Qualitates occultae.
z. B. die Verdauung durch den Magen, dann aber alle übrigen
teils empirisch begründeten, teils abergläubisch angenommenen
Erscheinungen, die mit den elementarischen Eigenschaften sich
nicht vereinigen ließen. Nicht nur, daß geriebener Bernstein
Strohhälmchen, und daß der Magnet das Eisen anzieht, son-
dern auch, daß die Gegenwart des Diamanten die Wirkung
des Magnets aufhebt, daß der Seeigel ein Schiff in seinem
Laufe anhält, daß die Verbrennung der Leber eines Chamäleons
Regen und Donnerwetter herbeizieht, -- alle diese Erdichtungen
des grassesten Wunderglaubens faßte man zusammen unter
dem Namen der qualitates occultae. Unter diesen Sammelbegriff
konnten nun alle neuen Entdeckungen, welche man über die
gegenseitigen Einwirkungen der Dinge machte, aufgenommen
werden; die Schöpfung einer neuen verborgenen Eigenschaft
war mit einem Federstrich gethan, und die oberflächliche
Kenntnis mochte sich damit beruhigen. Wer etwas feierlicher
zu Werke gehen wollte, der konnte die verborgenen Qualitäten
auf urbildliche Ideen oder auf siderische Intelligenzen, oder
auf spezifische Formen zurückführen. Alle diese Annahmen
kamen schließlich darauf hinaus, daß Gott selbst durch eine
mehr oder weniger vermittelte weltregierende Thätigkeit die
den Dingen angedichtete Wirkung nach seinem Willen hervor-
rufe. Diese verborgenen Eigenschaften werden dadurch aus
dem allgemeinen Naturzusammenhange, aus welchem sie nicht
erklärlich scheinen, herausgelöst, und indem sie der Willkür
des Schöpfers ausdrücklich unterstellt werden, eröffnet sich
dem zügellosesten Aberglauben Thür und Thor. Denn der Wille
Gottes ist unerforschlich. Wie Gott den Dingen ihre beson-
deren Eigenschaften verleiht, so mochte er sie auch gelegentlich
ihrer Wirkungsfähigkeit entbinden können. Von einer wissen-
schaftlichen Naturerklärung konnte unter solchen Umständen
nicht die Rede sein.

Das nächste Erfordernis für einen Fortschritt der Natur-
wissenschaften bestand demnach darin, daß die verborgenen
Qualitäten in die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Welt einge-
reiht wurden.

Erklärt sollte werden die komplizierte und mannigfaltige
Wirkung der Dinge aufeinander; die Annahme der direkten
oder vermittelten Einwirkung Gottes im einzelnen aber

Laßwitz. 19

Qualitates occultae.
z. B. die Verdauung durch den Magen, dann aber alle übrigen
teils empirisch begründeten, teils abergläubisch angenommenen
Erscheinungen, die mit den elementarischen Eigenschaften sich
nicht vereinigen ließen. Nicht nur, daß geriebener Bernstein
Strohhälmchen, und daß der Magnet das Eisen anzieht, son-
dern auch, daß die Gegenwart des Diamanten die Wirkung
des Magnets aufhebt, daß der Seeigel ein Schiff in seinem
Laufe anhält, daß die Verbrennung der Leber eines Chamäleons
Regen und Donnerwetter herbeizieht, — alle diese Erdichtungen
des grassesten Wunderglaubens faßte man zusammen unter
dem Namen der qualitates occultae. Unter diesen Sammelbegriff
konnten nun alle neuen Entdeckungen, welche man über die
gegenseitigen Einwirkungen der Dinge machte, aufgenommen
werden; die Schöpfung einer neuen verborgenen Eigenschaft
war mit einem Federstrich gethan, und die oberflächliche
Kenntnis mochte sich damit beruhigen. Wer etwas feierlicher
zu Werke gehen wollte, der konnte die verborgenen Qualitäten
auf urbildliche Ideen oder auf siderische Intelligenzen, oder
auf spezifische Formen zurückführen. Alle diese Annahmen
kamen schließlich darauf hinaus, daß Gott selbst durch eine
mehr oder weniger vermittelte weltregierende Thätigkeit die
den Dingen angedichtete Wirkung nach seinem Willen hervor-
rufe. Diese verborgenen Eigenschaften werden dadurch aus
dem allgemeinen Naturzusammenhange, aus welchem sie nicht
erklärlich scheinen, herausgelöst, und indem sie der Willkür
des Schöpfers ausdrücklich unterstellt werden, eröffnet sich
dem zügellosesten Aberglauben Thür und Thor. Denn der Wille
Gottes ist unerforschlich. Wie Gott den Dingen ihre beson-
deren Eigenschaften verleiht, so mochte er sie auch gelegentlich
ihrer Wirkungsfähigkeit entbinden können. Von einer wissen-
schaftlichen Naturerklärung konnte unter solchen Umständen
nicht die Rede sein.

Das nächste Erfordernis für einen Fortschritt der Natur-
wissenschaften bestand demnach darin, daß die verborgenen
Qualitäten in die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Welt einge-
reiht wurden.

Erklärt sollte werden die komplizierte und mannigfaltige
Wirkung der Dinge aufeinander; die Annahme der direkten
oder vermittelten Einwirkung Gottes im einzelnen aber

Laßwitz. 19
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[289/0307] Qualitates occultae. z. B. die Verdauung durch den Magen, dann aber alle übrigen teils empirisch begründeten, teils abergläubisch angenommenen Erscheinungen, die mit den elementarischen Eigenschaften sich nicht vereinigen ließen. Nicht nur, daß geriebener Bernstein Strohhälmchen, und daß der Magnet das Eisen anzieht, son- dern auch, daß die Gegenwart des Diamanten die Wirkung des Magnets aufhebt, daß der Seeigel ein Schiff in seinem Laufe anhält, daß die Verbrennung der Leber eines Chamäleons Regen und Donnerwetter herbeizieht, — alle diese Erdichtungen des grassesten Wunderglaubens faßte man zusammen unter dem Namen der qualitates occultae. Unter diesen Sammelbegriff konnten nun alle neuen Entdeckungen, welche man über die gegenseitigen Einwirkungen der Dinge machte, aufgenommen werden; die Schöpfung einer neuen verborgenen Eigenschaft war mit einem Federstrich gethan, und die oberflächliche Kenntnis mochte sich damit beruhigen. Wer etwas feierlicher zu Werke gehen wollte, der konnte die verborgenen Qualitäten auf urbildliche Ideen oder auf siderische Intelligenzen, oder auf spezifische Formen zurückführen. Alle diese Annahmen kamen schließlich darauf hinaus, daß Gott selbst durch eine mehr oder weniger vermittelte weltregierende Thätigkeit die den Dingen angedichtete Wirkung nach seinem Willen hervor- rufe. Diese verborgenen Eigenschaften werden dadurch aus dem allgemeinen Naturzusammenhange, aus welchem sie nicht erklärlich scheinen, herausgelöst, und indem sie der Willkür des Schöpfers ausdrücklich unterstellt werden, eröffnet sich dem zügellosesten Aberglauben Thür und Thor. Denn der Wille Gottes ist unerforschlich. Wie Gott den Dingen ihre beson- deren Eigenschaften verleiht, so mochte er sie auch gelegentlich ihrer Wirkungsfähigkeit entbinden können. Von einer wissen- schaftlichen Naturerklärung konnte unter solchen Umständen nicht die Rede sein. Das nächste Erfordernis für einen Fortschritt der Natur- wissenschaften bestand demnach darin, daß die verborgenen Qualitäten in die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Welt einge- reiht wurden. Erklärt sollte werden die komplizierte und mannigfaltige Wirkung der Dinge aufeinander; die Annahme der direkten oder vermittelten Einwirkung Gottes im einzelnen aber Laßwitz. 19

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 289. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/307>, abgerufen am 22.11.2024.