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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Cardano. Vergleich mit Paracelsus.

Bei den Männern, welche zunächst für den Fortschritt
der Körperlehre in Betracht kommen, geht allerdings die Ent-
wickelung vorläufig nach einer der Atomistik entgegengesetzten
Seite, vereint sich aber mit ihr in der Bekämpfung des
Aristoteles.

2. Cardano.

Geronimo Cardano (1501--1576) zeigt in seiner Lehre eine
außerordentliche Übereinstimmung mit Paracelsus, obwohl er
in Bildung, Charakter und allgemeiner Lebensansicht ihm
direkt gegenübersteht. Beide sind Ärzte; aber Paracelsus ist
Chemiker und analysiert die Körperwelt, er will nichts gelten
lassen als die unmittelbare Empirie, er schöpft seine Kraft
direkt aus dem Volke, mit dem er verkehrt, er schreibt in
seiner Muttersprache und will von den Gelehrten nichts wissen.
Cardano ist Mathematiker und zur Deduktion geneigt, er
schätzt auch das Wissen der Alten und die Kenntnisse, welche
man aus Bibliotheken gewinnt, er will die Wissenschaften vom
Volke abschließen und nicht lateinisch geschriebene wissen-
schaftliche Werke verboten wissen, weil sie nur Unruhe stiften.
Paracelsus steht auf sehr vorurteilslosem Glaubensstandpunkte
und berührt sich fast mit Luther; Cardano bleibt streng im
Rahmen der katholischen Kirche, der er unbedingte Autorität
zuerkennt. Trotz dieses Gegensatzes zu Paracelsus wird
er auf ähnliche physikalische Grundanschauungen geführt,
die nur bei ihm mehr mit der Überlieferung vermittelt er-
scheinen.

Cardano nimmt an, daß die von Gott geschaffene Ur-
materie (prima materia oder #) actu existiere; den Formen gegen-
über ist sie allerdings nur potentia, aber unter den Formen
muß es etwas geben, das beim Entstehen und Vergehen unver-
ändert bleibt. Diese Urmaterie behält diejenige Form, welche
sie zuletzt gehabt hat, so lange bei, bis eine neue an sie
herantritt. Sie erfüllt das concavum orbis vollständig, so daß
ein Vacuum nicht existiert. Die Urmaterie kann zwar inner-
halb bestimmter Grenzen verschiedene Größe und sogar
unendlich viele Grade der räumlichen Ausdehnung proteus-
artig annehmen, diese Grenzen selbst aber sind fest um-

Cardano. Vergleich mit Paracelsus.

Bei den Männern, welche zunächst für den Fortschritt
der Körperlehre in Betracht kommen, geht allerdings die Ent-
wickelung vorläufig nach einer der Atomistik entgegengesetzten
Seite, vereint sich aber mit ihr in der Bekämpfung des
Aristoteles.

2. Cardano.

Geronimo Cardano (1501—1576) zeigt in seiner Lehre eine
außerordentliche Übereinstimmung mit Paracelsus, obwohl er
in Bildung, Charakter und allgemeiner Lebensansicht ihm
direkt gegenübersteht. Beide sind Ärzte; aber Paracelsus ist
Chemiker und analysiert die Körperwelt, er will nichts gelten
lassen als die unmittelbare Empirie, er schöpft seine Kraft
direkt aus dem Volke, mit dem er verkehrt, er schreibt in
seiner Muttersprache und will von den Gelehrten nichts wissen.
Cardano ist Mathematiker und zur Deduktion geneigt, er
schätzt auch das Wissen der Alten und die Kenntnisse, welche
man aus Bibliotheken gewinnt, er will die Wissenschaften vom
Volke abschließen und nicht lateinisch geschriebene wissen-
schaftliche Werke verboten wissen, weil sie nur Unruhe stiften.
Paracelsus steht auf sehr vorurteilslosem Glaubensstandpunkte
und berührt sich fast mit Luther; Cardano bleibt streng im
Rahmen der katholischen Kirche, der er unbedingte Autorität
zuerkennt. Trotz dieses Gegensatzes zu Paracelsus wird
er auf ähnliche physikalische Grundanschauungen geführt,
die nur bei ihm mehr mit der Überlieferung vermittelt er-
scheinen.

Cardano nimmt an, daß die von Gott geschaffene Ur-
materie (prima materia oder #) actu existiere; den Formen gegen-
über ist sie allerdings nur potentia, aber unter den Formen
muß es etwas geben, das beim Entstehen und Vergehen unver-
ändert bleibt. Diese Urmaterie behält diejenige Form, welche
sie zuletzt gehabt hat, so lange bei, bis eine neue an sie
herantritt. Sie erfüllt das concavum orbis vollständig, so daß
ein Vacuum nicht existiert. Die Urmaterie kann zwar inner-
halb bestimmter Grenzen verschiedene Größe und sogar
unendlich viele Grade der räumlichen Ausdehnung proteus-
artig annehmen, diese Grenzen selbst aber sind fest um-

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[308/0326] Cardano. Vergleich mit Paracelsus. Bei den Männern, welche zunächst für den Fortschritt der Körperlehre in Betracht kommen, geht allerdings die Ent- wickelung vorläufig nach einer der Atomistik entgegengesetzten Seite, vereint sich aber mit ihr in der Bekämpfung des Aristoteles. 2. Cardano. Geronimo Cardano (1501—1576) zeigt in seiner Lehre eine außerordentliche Übereinstimmung mit Paracelsus, obwohl er in Bildung, Charakter und allgemeiner Lebensansicht ihm direkt gegenübersteht. Beide sind Ärzte; aber Paracelsus ist Chemiker und analysiert die Körperwelt, er will nichts gelten lassen als die unmittelbare Empirie, er schöpft seine Kraft direkt aus dem Volke, mit dem er verkehrt, er schreibt in seiner Muttersprache und will von den Gelehrten nichts wissen. Cardano ist Mathematiker und zur Deduktion geneigt, er schätzt auch das Wissen der Alten und die Kenntnisse, welche man aus Bibliotheken gewinnt, er will die Wissenschaften vom Volke abschließen und nicht lateinisch geschriebene wissen- schaftliche Werke verboten wissen, weil sie nur Unruhe stiften. Paracelsus steht auf sehr vorurteilslosem Glaubensstandpunkte und berührt sich fast mit Luther; Cardano bleibt streng im Rahmen der katholischen Kirche, der er unbedingte Autorität zuerkennt. Trotz dieses Gegensatzes zu Paracelsus wird er auf ähnliche physikalische Grundanschauungen geführt, die nur bei ihm mehr mit der Überlieferung vermittelt er- scheinen. Cardano nimmt an, daß die von Gott geschaffene Ur- materie (prima materia oder #) actu existiere; den Formen gegen- über ist sie allerdings nur potentia, aber unter den Formen muß es etwas geben, das beim Entstehen und Vergehen unver- ändert bleibt. Diese Urmaterie behält diejenige Form, welche sie zuletzt gehabt hat, so lange bei, bis eine neue an sie herantritt. Sie erfüllt das concavum orbis vollständig, so daß ein Vacuum nicht existiert. Die Urmaterie kann zwar inner- halb bestimmter Grenzen verschiedene Größe und sogar unendlich viele Grade der räumlichen Ausdehnung proteus- artig annehmen, diese Grenzen selbst aber sind fest um-

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 308. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/326>, abgerufen am 22.11.2024.