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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Telesio. Patrizzi.
und eines ferneren göttlichen Eingriffs nicht bedarf. Das ist
die wichtige Lehre, durch welche Telesio der Welt ihr Be-
stehen und der Naturwissenschaft ihre Möglichkeit garantiert.
Die Entstehung der Natur mag von der Philosophie untersucht
werden, die Physik soll nur den gegenwärtigen Bestand der
Dinge ergründen. Dabei berücksichtigt Telesio nicht bloß die
Qualitäten der Dinge, sondern wesentlich ihre quantitativen
Verhältnisse und unterscheidet sechs verschiedene Grade des
Übergangs von der Dichtheit zur Dünnheit, durch welche die
Naturerscheinungen erklärt werden sollen. Aber freilich mußte
er hier bei allgemeinen Vermutungen stehen bleiben; zu maß-
gebenden Erklärungen konnte er nicht fortschreiten.

Noch stärker als bei Telesio herrscht die dichterische
Phantasie vor bei Franciscus Patritius (1529--1597).1 Auch
für ihn gilt die ganze Welt als belebt. Denn Geist und Körper
hält er für so absolute Gegensätze, daß eine gegenseitige
Einwirkung derselben unmöglich wäre, wenn nicht zwischen
ihnen vermittelnde Grade vorhanden wären. Auf Grund dieser
platonisierenden Ansicht nimmt er als Vermittler zwischen Geist
und Körper die Seele und das Licht an. Beide sind gewissermaßen
unkörperlich und doch körperlich. Das erste Licht Gottes ist
unkörperlich, aber schon das Licht der Sonne und der Sterne
ist zugleich geistig und körperlich. Licht und Wärme sind
die Agentien, welche die Beschaffenheit und Wirkungsart
der Körper bedingen. Aber die Körper bedürfen zu ihrem
Bestehen noch zweier andrer Grundeigenschaften, nämlich
Ausdehnung und Undurchdringlichkeit. Ausdehnung
nach drei Dimensionen gibt ihnen der Raum, die Undurch-
dringlichkeit, d. h. den Widerstand (resistentia, antitypia) gibt
ihnen das Raumerfüllende, nämlich eine durch die ganze Un-
endlichkeit des Raumes ausgegossene, seit Beginn der Schöpfung
existierende Flüssigkeit (fluor, humor primigenius). Es
sind also nicht die vier Elemente des Aristoteles, welche die
Grundbestandteile der Welt bilden, sondern die vier Prinzipien:
Raum, Flüssigkeit, Licht und Wärme. Die Welt selbst ist
zugleich endlich und unendlich, d. h. endlich in dem Sinne,
daß das Endliche im Unendlichen enthalten ist. Raum, Flüssig-

1 Rixner und Siber. H. 4. Ritter IX S. 576 ff. Harms, Einl. S. 219.

Telesio. Patrizzi.
und eines ferneren göttlichen Eingriffs nicht bedarf. Das ist
die wichtige Lehre, durch welche Telesio der Welt ihr Be-
stehen und der Naturwissenschaft ihre Möglichkeit garantiert.
Die Entstehung der Natur mag von der Philosophie untersucht
werden, die Physik soll nur den gegenwärtigen Bestand der
Dinge ergründen. Dabei berücksichtigt Telesio nicht bloß die
Qualitäten der Dinge, sondern wesentlich ihre quantitativen
Verhältnisse und unterscheidet sechs verschiedene Grade des
Übergangs von der Dichtheit zur Dünnheit, durch welche die
Naturerscheinungen erklärt werden sollen. Aber freilich mußte
er hier bei allgemeinen Vermutungen stehen bleiben; zu maß-
gebenden Erklärungen konnte er nicht fortschreiten.

Noch stärker als bei Telesio herrscht die dichterische
Phantasie vor bei Franciscus Patritius (1529—1597).1 Auch
für ihn gilt die ganze Welt als belebt. Denn Geist und Körper
hält er für so absolute Gegensätze, daß eine gegenseitige
Einwirkung derselben unmöglich wäre, wenn nicht zwischen
ihnen vermittelnde Grade vorhanden wären. Auf Grund dieser
platonisierenden Ansicht nimmt er als Vermittler zwischen Geist
und Körper die Seele und das Licht an. Beide sind gewissermaßen
unkörperlich und doch körperlich. Das erste Licht Gottes ist
unkörperlich, aber schon das Licht der Sonne und der Sterne
ist zugleich geistig und körperlich. Licht und Wärme sind
die Agentien, welche die Beschaffenheit und Wirkungsart
der Körper bedingen. Aber die Körper bedürfen zu ihrem
Bestehen noch zweier andrer Grundeigenschaften, nämlich
Ausdehnung und Undurchdringlichkeit. Ausdehnung
nach drei Dimensionen gibt ihnen der Raum, die Undurch-
dringlichkeit, d. h. den Widerstand (resistentia, antitypia) gibt
ihnen das Raumerfüllende, nämlich eine durch die ganze Un-
endlichkeit des Raumes ausgegossene, seit Beginn der Schöpfung
existierende Flüssigkeit (fluor, humor primigenius). Es
sind also nicht die vier Elemente des Aristoteles, welche die
Grundbestandteile der Welt bilden, sondern die vier Prinzipien:
Raum, Flüssigkeit, Licht und Wärme. Die Welt selbst ist
zugleich endlich und unendlich, d. h. endlich in dem Sinne,
daß das Endliche im Unendlichen enthalten ist. Raum, Flüssig-

1 Rixner und Siber. H. 4. Ritter IX S. 576 ff. Harms, Einl. S. 219.
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[314/0332] Telesio. Patrizzi. und eines ferneren göttlichen Eingriffs nicht bedarf. Das ist die wichtige Lehre, durch welche Telesio der Welt ihr Be- stehen und der Naturwissenschaft ihre Möglichkeit garantiert. Die Entstehung der Natur mag von der Philosophie untersucht werden, die Physik soll nur den gegenwärtigen Bestand der Dinge ergründen. Dabei berücksichtigt Telesio nicht bloß die Qualitäten der Dinge, sondern wesentlich ihre quantitativen Verhältnisse und unterscheidet sechs verschiedene Grade des Übergangs von der Dichtheit zur Dünnheit, durch welche die Naturerscheinungen erklärt werden sollen. Aber freilich mußte er hier bei allgemeinen Vermutungen stehen bleiben; zu maß- gebenden Erklärungen konnte er nicht fortschreiten. Noch stärker als bei Telesio herrscht die dichterische Phantasie vor bei Franciscus Patritius (1529—1597). 1 Auch für ihn gilt die ganze Welt als belebt. Denn Geist und Körper hält er für so absolute Gegensätze, daß eine gegenseitige Einwirkung derselben unmöglich wäre, wenn nicht zwischen ihnen vermittelnde Grade vorhanden wären. Auf Grund dieser platonisierenden Ansicht nimmt er als Vermittler zwischen Geist und Körper die Seele und das Licht an. Beide sind gewissermaßen unkörperlich und doch körperlich. Das erste Licht Gottes ist unkörperlich, aber schon das Licht der Sonne und der Sterne ist zugleich geistig und körperlich. Licht und Wärme sind die Agentien, welche die Beschaffenheit und Wirkungsart der Körper bedingen. Aber die Körper bedürfen zu ihrem Bestehen noch zweier andrer Grundeigenschaften, nämlich Ausdehnung und Undurchdringlichkeit. Ausdehnung nach drei Dimensionen gibt ihnen der Raum, die Undurch- dringlichkeit, d. h. den Widerstand (resistentia, antitypia) gibt ihnen das Raumerfüllende, nämlich eine durch die ganze Un- endlichkeit des Raumes ausgegossene, seit Beginn der Schöpfung existierende Flüssigkeit (fluor, humor primigenius). Es sind also nicht die vier Elemente des Aristoteles, welche die Grundbestandteile der Welt bilden, sondern die vier Prinzipien: Raum, Flüssigkeit, Licht und Wärme. Die Welt selbst ist zugleich endlich und unendlich, d. h. endlich in dem Sinne, daß das Endliche im Unendlichen enthalten ist. Raum, Flüssig- 1 Rixner und Siber. H. 4. Ritter IX S. 576 ff. Harms, Einl. S. 219.

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/332>, abgerufen am 21.11.2024.