Wenn sie rauh und eckig und hakig sind, damit sie zusammenhängen können, so werden sie auch teilbar und zer- trennbar sein; denn Haken und Ecken müssen notwendiger- weise vorspringen, so daß sie abgeschnitten werden können; was aber abgeschnitten und zerrissen werden kann, das wird auch gesehen und gefaßt werden können.
"Die Atome", sagt Leukipp, "fliegen in nimmerruhender Bewegung durch das Leere und werden hier- und dahin getragen, wie wir es an den feinen Stäubchen in der Sonne sehen, wenn sie durchs Fenster ihre leuchtenden Strahlen sendet.1 Aus ihnen entstehen Bäume, Kräuter und alle Früchte, aus ihnen Tiere und Wasser und Feuer und alles, und in dieselben wird alles wieder aufgelöst."
Eine solche Behauptung, entgegnet Lactantius, sei erträg- lich, so lange es sich um kleine Dinge handele. Aber nach Leukipp soll auch die Welt aus den Atomen entstanden sein. Nun hat er das Maß vollkommenen Wahnsinns erfüllt; darüber hinaus scheint es nichts mehr zu geben; dennoch hat jener Mensch noch etwas hinzuerfunden. "Da ja alles unendlich ist", sagt er, "kann überhaupt nichts leer sein. Es muß also unzählbare Welten geben."
Welche Gewalt der Atome konnte so groß sein, daß so unermeßliche Massen aus so kleinen Teilchen zusammengeballt wurden? Was ist denn der Grund oder Ursprung jener Keime? Denn wenn alles aus ihnen ward, woher sollen wir sagen, daß sie selber sind, welche die Natur in so großer Menge zur Er- zeugung unzähliger Welten herbeiführte?
Aber geben wir zu, daß er ungestraft über die Welten faseln durfte, und reden wir über die Welt, in welcher wir sind und welche wir sehen. Er sagt, alles sei aus unteilbaren Körperchen (ex individuis corpusculis) geworden. Wenn dies so wäre, würde kein Ding je des Samens seiner Gattung be- dürfen. Vögel könnten ohne Eier entstehen und Eier brauchten nicht gelegt zu werden, kein Lebewesen bedürfte der Zeugung. Bäume und was aus der Erde erwächst besäße keinen ihm eigen- tümlichen Samen, während uns doch die tägliche Erfahrung zeigt, daß nur aus den Getreidekörnern die Saat und wieder
1 Vgl. Lucretius, De natura rerum. l. II, v. 112 ff.
Lactantius: Gegen die Eigenschaften der Atome.
Wenn sie rauh und eckig und hakig sind, damit sie zusammenhängen können, so werden sie auch teilbar und zer- trennbar sein; denn Haken und Ecken müssen notwendiger- weise vorspringen, so daß sie abgeschnitten werden können; was aber abgeschnitten und zerrissen werden kann, das wird auch gesehen und gefaßt werden können.
„Die Atome‟, sagt Leukipp, „fliegen in nimmerruhender Bewegung durch das Leere und werden hier- und dahin getragen, wie wir es an den feinen Stäubchen in der Sonne sehen, wenn sie durchs Fenster ihre leuchtenden Strahlen sendet.1 Aus ihnen entstehen Bäume, Kräuter und alle Früchte, aus ihnen Tiere und Wasser und Feuer und alles, und in dieselben wird alles wieder aufgelöst.‟
Eine solche Behauptung, entgegnet Lactantius, sei erträg- lich, so lange es sich um kleine Dinge handele. Aber nach Leukipp soll auch die Welt aus den Atomen entstanden sein. Nun hat er das Maß vollkommenen Wahnsinns erfüllt; darüber hinaus scheint es nichts mehr zu geben; dennoch hat jener Mensch noch etwas hinzuerfunden. „Da ja alles unendlich ist‟, sagt er, „kann überhaupt nichts leer sein. Es muß also unzählbare Welten geben.‟
Welche Gewalt der Atome konnte so groß sein, daß so unermeßliche Massen aus so kleinen Teilchen zusammengeballt wurden? Was ist denn der Grund oder Ursprung jener Keime? Denn wenn alles aus ihnen ward, woher sollen wir sagen, daß sie selber sind, welche die Natur in so großer Menge zur Er- zeugung unzähliger Welten herbeiführte?
Aber geben wir zu, daß er ungestraft über die Welten faseln durfte, und reden wir über die Welt, in welcher wir sind und welche wir sehen. Er sagt, alles sei aus unteilbaren Körperchen (ex individuis corpusculis) geworden. Wenn dies so wäre, würde kein Ding je des Samens seiner Gattung be- dürfen. Vögel könnten ohne Eier entstehen und Eier brauchten nicht gelegt zu werden, kein Lebewesen bedürfte der Zeugung. Bäume und was aus der Erde erwächst besäße keinen ihm eigen- tümlichen Samen, während uns doch die tägliche Erfahrung zeigt, daß nur aus den Getreidekörnern die Saat und wieder
1 Vgl. Lucretius, De natura rerum. l. II, v. 112 ff.
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Lactantius: Gegen die Eigenschaften der Atome.
Wenn sie rauh und eckig und hakig sind, damit sie
zusammenhängen können, so werden sie auch teilbar und zer-
trennbar sein; denn Haken und Ecken müssen notwendiger-
weise vorspringen, so daß sie abgeschnitten werden können;
was aber abgeschnitten und zerrissen werden kann, das wird
auch gesehen und gefaßt werden können.
„Die Atome‟, sagt Leukipp, „fliegen in nimmerruhender
Bewegung durch das Leere und werden hier- und dahin getragen,
wie wir es an den feinen Stäubchen in der Sonne sehen, wenn
sie durchs Fenster ihre leuchtenden Strahlen sendet. 1 Aus
ihnen entstehen Bäume, Kräuter und alle Früchte, aus ihnen
Tiere und Wasser und Feuer und alles, und in dieselben wird
alles wieder aufgelöst.‟
Eine solche Behauptung, entgegnet Lactantius, sei erträg-
lich, so lange es sich um kleine Dinge handele. Aber nach
Leukipp soll auch die Welt aus den Atomen entstanden sein.
Nun hat er das Maß vollkommenen Wahnsinns erfüllt; darüber
hinaus scheint es nichts mehr zu geben; dennoch hat jener
Mensch noch etwas hinzuerfunden. „Da ja alles unendlich ist‟,
sagt er, „kann überhaupt nichts leer sein. Es muß also
unzählbare Welten geben.‟
Welche Gewalt der Atome konnte so groß sein, daß so
unermeßliche Massen aus so kleinen Teilchen zusammengeballt
wurden? Was ist denn der Grund oder Ursprung jener Keime?
Denn wenn alles aus ihnen ward, woher sollen wir sagen, daß
sie selber sind, welche die Natur in so großer Menge zur Er-
zeugung unzähliger Welten herbeiführte?
Aber geben wir zu, daß er ungestraft über die Welten
faseln durfte, und reden wir über die Welt, in welcher wir
sind und welche wir sehen. Er sagt, alles sei aus unteilbaren
Körperchen (ex individuis corpusculis) geworden. Wenn dies
so wäre, würde kein Ding je des Samens seiner Gattung be-
dürfen. Vögel könnten ohne Eier entstehen und Eier brauchten
nicht gelegt zu werden, kein Lebewesen bedürfte der Zeugung.
Bäume und was aus der Erde erwächst besäße keinen ihm eigen-
tümlichen Samen, während uns doch die tägliche Erfahrung
zeigt, daß nur aus den Getreidekörnern die Saat und wieder
1 Vgl. Lucretius, De natura rerum. l. II, v. 112 ff.
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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/38>, abgerufen am 30.01.2025.
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