selbst zu denken. Da man aber sogar gewagt hat, derartiges zu verteidigen, so schäme ich mich nicht ihrer, sondern des Menschengeschlechts selbst, dessen Ohren dies vertragen konnten."
Die Ausführungen des Augustinus schließen sich an Cicero1 an. Sie ergänzen die Meinungsäußerungen des Dionysius und Lactantius über die Atome, indem sie auch die Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorie der Atomiker bekämpfen. Sie sind zu- gleich das Scharfsinnigste, was gegen die Atome gesagt ist; indem Augustinus die innere Konsequenz der Atomistik zugibt, bestreitet er die Unmöglichkeit der Atome mit Berufung auf die Unmöglichkeit, sie wahrzunehmen oder zu denken. Aber diese Widerlegung geschieht nur mit Widerwillen; für den Christen wäre sie nicht nötig; lieber möchte er diesen Schmutz gar nicht erst anrühren, jedoch läßt er sich herab, ihn zu entfernen, um zu zeigen, daß auch dies ihm ein Leichtes sei.
Das Bild, welches das Studium der Atomistik in der patristischen Zeit darbietet, dürfte hiermit zur Genüge vervoll- ständigt sein. Die ausreichende historische Übermittelung und die thatsächliche Kenntnis der Atomistik stärkt nur die Ab- wendung von derselben. Je mehr die Macht der christlichen Lehre fortschreitet, um so mehr schwindet mit dem Interesse an den kosmischen und physikalischen Problemen das Ver- ständnis für eine kausale Erklärungsweise. Das Wunder reicht überall aus; es ist geschehen in der Weltschöpfung, es ist vollzogen durch das Leben des Heilandes, es wird erlebt all- täglich in der Seele des Christen, die durch die Gnade Gottes sich erlöst fühlt. Was also sollen die Bemühungen, äußerliche Erklärungen für die Wunder der Natur aufzufinden? Das über- lasse man den Heiden!
So lange der Mangel an physikalischem Interesse andauerte, war von vornherein für die Atomistik nichts zu hoffen. Aber die autoritative Macht der Kirchenlehrer sollte noch weit in die Zeiten hineinwirken, in welchen eine selbständige Wissenschaft sich wieder zu regen begann. Ihr Verdammungsurteil verhin- derte einerseits die Beschäftigung mit korpuskularen Vorstel- lungen überhaupt und erschwerte sie anderseits für diejenigen,
1 Hier namentlich De natura deorum, l. I, c. 18, 19, 24, 25, 38, 39, 43.
Verachtung der Atomistik.
selbst zu denken. Da man aber sogar gewagt hat, derartiges zu verteidigen, so schäme ich mich nicht ihrer, sondern des Menschengeschlechts selbst, dessen Ohren dies vertragen konnten.‟
Die Ausführungen des Augustinus schließen sich an Cicero1 an. Sie ergänzen die Meinungsäußerungen des Dionysius und Lactantius über die Atome, indem sie auch die Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorie der Atomiker bekämpfen. Sie sind zu- gleich das Scharfsinnigste, was gegen die Atome gesagt ist; indem Augustinus die innere Konsequenz der Atomistik zugibt, bestreitet er die Unmöglichkeit der Atome mit Berufung auf die Unmöglichkeit, sie wahrzunehmen oder zu denken. Aber diese Widerlegung geschieht nur mit Widerwillen; für den Christen wäre sie nicht nötig; lieber möchte er diesen Schmutz gar nicht erst anrühren, jedoch läßt er sich herab, ihn zu entfernen, um zu zeigen, daß auch dies ihm ein Leichtes sei.
Das Bild, welches das Studium der Atomistik in der patristischen Zeit darbietet, dürfte hiermit zur Genüge vervoll- ständigt sein. Die ausreichende historische Übermittelung und die thatsächliche Kenntnis der Atomistik stärkt nur die Ab- wendung von derselben. Je mehr die Macht der christlichen Lehre fortschreitet, um so mehr schwindet mit dem Interesse an den kosmischen und physikalischen Problemen das Ver- ständnis für eine kausale Erklärungsweise. Das Wunder reicht überall aus; es ist geschehen in der Weltschöpfung, es ist vollzogen durch das Leben des Heilandes, es wird erlebt all- täglich in der Seele des Christen, die durch die Gnade Gottes sich erlöst fühlt. Was also sollen die Bemühungen, äußerliche Erklärungen für die Wunder der Natur aufzufinden? Das über- lasse man den Heiden!
So lange der Mangel an physikalischem Interesse andauerte, war von vornherein für die Atomistik nichts zu hoffen. Aber die autoritative Macht der Kirchenlehrer sollte noch weit in die Zeiten hineinwirken, in welchen eine selbständige Wissenschaft sich wieder zu regen begann. Ihr Verdammungsurteil verhin- derte einerseits die Beschäftigung mit korpuskularen Vorstel- lungen überhaupt und erschwerte sie anderseits für diejenigen,
1 Hier namentlich De natura deorum, l. I, c. 18, 19, 24, 25, 38, 39, 43.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0047"n="29"/><fwplace="top"type="header">Verachtung der Atomistik.</fw><lb/>
selbst zu denken. Da man aber sogar gewagt hat, derartiges<lb/>
zu verteidigen, so schäme ich mich nicht ihrer, sondern des<lb/>
Menschengeschlechts selbst, dessen Ohren dies vertragen<lb/>
konnten.‟</p><lb/><p>Die Ausführungen des <hirendition="#k">Augustinus</hi> schließen sich an <hirendition="#k">Cicero</hi><noteplace="foot"n="1">Hier namentlich <hirendition="#i">De natura deorum</hi>, l. I, c. 18, 19, 24, 25, 38, 39, 43.</note><lb/>
an. Sie ergänzen die Meinungsäußerungen des <hirendition="#k">Dionysius</hi> und<lb/><hirendition="#k">Lactantius</hi> über die Atome, indem sie auch die Wahrnehmungs-<lb/>
und Erkenntnistheorie der Atomiker bekämpfen. Sie sind zu-<lb/>
gleich das Scharfsinnigste, was gegen die Atome gesagt ist;<lb/>
indem <hirendition="#k">Augustinus</hi> die innere Konsequenz der Atomistik zugibt,<lb/>
bestreitet er die Unmöglichkeit der Atome mit Berufung auf<lb/>
die Unmöglichkeit, sie wahrzunehmen oder zu denken. Aber<lb/>
diese Widerlegung geschieht nur mit Widerwillen; für den<lb/>
Christen wäre sie nicht nötig; lieber möchte er diesen Schmutz<lb/>
gar nicht erst anrühren, jedoch läßt er sich herab, ihn zu<lb/>
entfernen, um zu zeigen, daß auch dies ihm ein Leichtes sei.</p><lb/><p>Das Bild, welches das Studium der Atomistik in der<lb/>
patristischen Zeit darbietet, dürfte hiermit zur Genüge vervoll-<lb/>
ständigt sein. Die ausreichende historische Übermittelung und<lb/>
die thatsächliche Kenntnis der Atomistik stärkt nur die Ab-<lb/>
wendung von derselben. Je mehr die Macht der christlichen<lb/>
Lehre fortschreitet, um so mehr schwindet mit dem Interesse<lb/>
an den kosmischen und physikalischen Problemen das Ver-<lb/>
ständnis für eine kausale Erklärungsweise. Das Wunder reicht<lb/>
überall aus; es ist geschehen in der Weltschöpfung, es ist<lb/>
vollzogen durch das Leben des Heilandes, es wird erlebt all-<lb/>
täglich in der Seele des Christen, die durch die Gnade Gottes<lb/>
sich erlöst fühlt. Was also sollen die Bemühungen, äußerliche<lb/>
Erklärungen für die Wunder der Natur aufzufinden? Das über-<lb/>
lasse man den Heiden!</p><lb/><p>So lange der Mangel an physikalischem Interesse andauerte,<lb/>
war von vornherein für die Atomistik nichts zu hoffen. Aber<lb/>
die autoritative Macht der Kirchenlehrer sollte noch weit in die<lb/>
Zeiten hineinwirken, in welchen eine selbständige Wissenschaft<lb/>
sich wieder zu regen begann. Ihr Verdammungsurteil verhin-<lb/>
derte einerseits die Beschäftigung mit korpuskularen Vorstel-<lb/>
lungen überhaupt und erschwerte sie anderseits für diejenigen,<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[29/0047]
Verachtung der Atomistik.
selbst zu denken. Da man aber sogar gewagt hat, derartiges
zu verteidigen, so schäme ich mich nicht ihrer, sondern des
Menschengeschlechts selbst, dessen Ohren dies vertragen
konnten.‟
Die Ausführungen des Augustinus schließen sich an Cicero 1
an. Sie ergänzen die Meinungsäußerungen des Dionysius und
Lactantius über die Atome, indem sie auch die Wahrnehmungs-
und Erkenntnistheorie der Atomiker bekämpfen. Sie sind zu-
gleich das Scharfsinnigste, was gegen die Atome gesagt ist;
indem Augustinus die innere Konsequenz der Atomistik zugibt,
bestreitet er die Unmöglichkeit der Atome mit Berufung auf
die Unmöglichkeit, sie wahrzunehmen oder zu denken. Aber
diese Widerlegung geschieht nur mit Widerwillen; für den
Christen wäre sie nicht nötig; lieber möchte er diesen Schmutz
gar nicht erst anrühren, jedoch läßt er sich herab, ihn zu
entfernen, um zu zeigen, daß auch dies ihm ein Leichtes sei.
Das Bild, welches das Studium der Atomistik in der
patristischen Zeit darbietet, dürfte hiermit zur Genüge vervoll-
ständigt sein. Die ausreichende historische Übermittelung und
die thatsächliche Kenntnis der Atomistik stärkt nur die Ab-
wendung von derselben. Je mehr die Macht der christlichen
Lehre fortschreitet, um so mehr schwindet mit dem Interesse
an den kosmischen und physikalischen Problemen das Ver-
ständnis für eine kausale Erklärungsweise. Das Wunder reicht
überall aus; es ist geschehen in der Weltschöpfung, es ist
vollzogen durch das Leben des Heilandes, es wird erlebt all-
täglich in der Seele des Christen, die durch die Gnade Gottes
sich erlöst fühlt. Was also sollen die Bemühungen, äußerliche
Erklärungen für die Wunder der Natur aufzufinden? Das über-
lasse man den Heiden!
So lange der Mangel an physikalischem Interesse andauerte,
war von vornherein für die Atomistik nichts zu hoffen. Aber
die autoritative Macht der Kirchenlehrer sollte noch weit in die
Zeiten hineinwirken, in welchen eine selbständige Wissenschaft
sich wieder zu regen begann. Ihr Verdammungsurteil verhin-
derte einerseits die Beschäftigung mit korpuskularen Vorstel-
lungen überhaupt und erschwerte sie anderseits für diejenigen,
1 Hier namentlich De natura deorum, l. I, c. 18, 19, 24, 25, 38, 39, 43.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/47>, abgerufen am 03.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.