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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Realität der Begriffe.
gemeinsam ist ihnen die Realität, Körper zu sein, mathemati-
schen Bestimmungen zu unterliegen. In gleicher Weise unter-
scheiden sich die Einzeldinge -- auch insofern sie nicht Kör-
per sind -- durch ihre Eigenschaften, ihre accidentiellen Be-
stimmungen; gemeinsam aber ist ihnen der Begriff, die Zu-
gehörigkeit zu einer Gattung, eine That des Denkens.
Daher wird der Begriff, wie die mathematische Form, ebenfalls
für eine andre und höhere Art des Seins erachtet als das
Sinnliche; für diejenige Art des Seins, welche den Dingen ihre
Realität verleiht, durch welche sie im Denken sind und da-
durch überhaupt sind. Die Gattungen bleiben, die Einzeldinge
vergehen. So wird die Beziehung des Merkmals auf den Be-
griff, der Eigenschaft auf das Ding, kurzum das Denkmittel
der Substanzialität zum Erzeuger der Realität. Weil die Er-
kenntnis nur in Begriffen möglich ist, weil nur Begriffe die
Garantie gewähren, daß Wissenschaft bestehe, so erscheinen
auch nur Begriffe als die wahren Realitäten. Denn was wirk-
lich ist, kann nicht entschieden werden im schwankenden Nebel
der sinnlichen Erscheinung, sondern nur in der Klarheit des
wissenschaftlichen Denkens, und Wissenschaft besteht
nur in Begriffen.

Wenn Idee, mathematische Form und Begriff als Bedin-
gungen dafür erkannt werden, daß ihrem Inhalte Realität zu-
kommt, so kann, je mehr es gelingt, das sinnliche Erlebnis
unter jene Einheiten zusammenzufassen, die sinnliche Erfahrungs-
welt gesetzliche Realität erhalten und objektiviert werden. Es
kann eine Naturwissenschaft entstehen. Aber -- gleichviel wie
der Meister seine Ideen gedacht hatte -- in der Fortbildung
der Platonischen Lehre wurden dieselben nicht als Bedingun-
gen
der Realität aufgefaßt, sondern als selbständige reale
Wesen, sie selbst wurden hypostasiert und als Substanzen
hingestellt, welche jenseits der Sinnenwelt ein unabhängiges
Dasein für sich führen. Infolge dieser Hypostasierung der
Ideen und Allgemeinbegriffe wurde die Ideenwelt von der
Sinnenwelt durch eine Kluft getrennt und die letztere ihres
objektiven Geltungswertes entkleidet und zum Scheine herab-
gedrückt. Aus jenem Mißgriff entsprang die Unmöglichkeit,
zu einer wissenschaftlichen Naturerkenntnis fortzuschreiten,
weil der gesamte sinnliche Inhalt nunmehr einen Gegensatz

Laßwitz. 4

Realität der Begriffe.
gemeinsam ist ihnen die Realität, Körper zu sein, mathemati-
schen Bestimmungen zu unterliegen. In gleicher Weise unter-
scheiden sich die Einzeldinge — auch insofern sie nicht Kör-
per sind — durch ihre Eigenschaften, ihre accidentiellen Be-
stimmungen; gemeinsam aber ist ihnen der Begriff, die Zu-
gehörigkeit zu einer Gattung, eine That des Denkens.
Daher wird der Begriff, wie die mathematische Form, ebenfalls
für eine andre und höhere Art des Seins erachtet als das
Sinnliche; für diejenige Art des Seins, welche den Dingen ihre
Realität verleiht, durch welche sie im Denken sind und da-
durch überhaupt sind. Die Gattungen bleiben, die Einzeldinge
vergehen. So wird die Beziehung des Merkmals auf den Be-
griff, der Eigenschaft auf das Ding, kurzum das Denkmittel
der Substanzialität zum Erzeuger der Realität. Weil die Er-
kenntnis nur in Begriffen möglich ist, weil nur Begriffe die
Garantie gewähren, daß Wissenschaft bestehe, so erscheinen
auch nur Begriffe als die wahren Realitäten. Denn was wirk-
lich ist, kann nicht entschieden werden im schwankenden Nebel
der sinnlichen Erscheinung, sondern nur in der Klarheit des
wissenschaftlichen Denkens, und Wissenschaft besteht
nur in Begriffen.

Wenn Idee, mathematische Form und Begriff als Bedin-
gungen dafür erkannt werden, daß ihrem Inhalte Realität zu-
kommt, so kann, je mehr es gelingt, das sinnliche Erlebnis
unter jene Einheiten zusammenzufassen, die sinnliche Erfahrungs-
welt gesetzliche Realität erhalten und objektiviert werden. Es
kann eine Naturwissenschaft entstehen. Aber — gleichviel wie
der Meister seine Ideen gedacht hatte — in der Fortbildung
der Platonischen Lehre wurden dieselben nicht als Bedingun-
gen
der Realität aufgefaßt, sondern als selbständige reale
Wesen, sie selbst wurden hypostasiert und als Substanzen
hingestellt, welche jenseits der Sinnenwelt ein unabhängiges
Dasein für sich führen. Infolge dieser Hypostasierung der
Ideen und Allgemeinbegriffe wurde die Ideenwelt von der
Sinnenwelt durch eine Kluft getrennt und die letztere ihres
objektiven Geltungswertes entkleidet und zum Scheine herab-
gedrückt. Aus jenem Mißgriff entsprang die Unmöglichkeit,
zu einer wissenschaftlichen Naturerkenntnis fortzuschreiten,
weil der gesamte sinnliche Inhalt nunmehr einen Gegensatz

Laßwitz. 4
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[49/0067] Realität der Begriffe. gemeinsam ist ihnen die Realität, Körper zu sein, mathemati- schen Bestimmungen zu unterliegen. In gleicher Weise unter- scheiden sich die Einzeldinge — auch insofern sie nicht Kör- per sind — durch ihre Eigenschaften, ihre accidentiellen Be- stimmungen; gemeinsam aber ist ihnen der Begriff, die Zu- gehörigkeit zu einer Gattung, eine That des Denkens. Daher wird der Begriff, wie die mathematische Form, ebenfalls für eine andre und höhere Art des Seins erachtet als das Sinnliche; für diejenige Art des Seins, welche den Dingen ihre Realität verleiht, durch welche sie im Denken sind und da- durch überhaupt sind. Die Gattungen bleiben, die Einzeldinge vergehen. So wird die Beziehung des Merkmals auf den Be- griff, der Eigenschaft auf das Ding, kurzum das Denkmittel der Substanzialität zum Erzeuger der Realität. Weil die Er- kenntnis nur in Begriffen möglich ist, weil nur Begriffe die Garantie gewähren, daß Wissenschaft bestehe, so erscheinen auch nur Begriffe als die wahren Realitäten. Denn was wirk- lich ist, kann nicht entschieden werden im schwankenden Nebel der sinnlichen Erscheinung, sondern nur in der Klarheit des wissenschaftlichen Denkens, und Wissenschaft besteht nur in Begriffen. Wenn Idee, mathematische Form und Begriff als Bedin- gungen dafür erkannt werden, daß ihrem Inhalte Realität zu- kommt, so kann, je mehr es gelingt, das sinnliche Erlebnis unter jene Einheiten zusammenzufassen, die sinnliche Erfahrungs- welt gesetzliche Realität erhalten und objektiviert werden. Es kann eine Naturwissenschaft entstehen. Aber — gleichviel wie der Meister seine Ideen gedacht hatte — in der Fortbildung der Platonischen Lehre wurden dieselben nicht als Bedingun- gen der Realität aufgefaßt, sondern als selbständige reale Wesen, sie selbst wurden hypostasiert und als Substanzen hingestellt, welche jenseits der Sinnenwelt ein unabhängiges Dasein für sich führen. Infolge dieser Hypostasierung der Ideen und Allgemeinbegriffe wurde die Ideenwelt von der Sinnenwelt durch eine Kluft getrennt und die letztere ihres objektiven Geltungswertes entkleidet und zum Scheine herab- gedrückt. Aus jenem Mißgriff entsprang die Unmöglichkeit, zu einer wissenschaftlichen Naturerkenntnis fortzuschreiten, weil der gesamte sinnliche Inhalt nunmehr einen Gegensatz Laßwitz. 4

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/67>, abgerufen am 21.11.2024.