Die Aufgabe und der Fortschritt der Naturwissenschaft besteht darin, immer weitere Gebiete des unmittelbaren Erleb- nisses der Menschheit zu gesetzlicher Natur zu objektivieren. Das Eintreten einer Mondfinsternis ist für den Wilden nicht Natur, sondern ein übernatürliches Ereignis; es ist gesetzlos, zufällig. Für die Sternkundigen, denen die Wiederkehr der Verfinsterungen nach der Periode des Saros empirisch bekannt war, wurde die Finsternis aus dem fragwürdigen Erlebnis zur objektiven Wirklichkeit; für den modernen Astronomen, der den systematischen Zusammenhang bis auf die Minute beherrscht, ist sie Natur. Für jedes Zeitalter existiert nur soviel Natur (im wissenschaftlichen Sinne), als es durch den gleichzeitigen Standpunkt des Denkens zu schaffen vermag. Dies Erschaffen der Natur aber besteht in der begrifflichen Fixierung des in der sinnlichen Empfindung Gegebenen; je nachdem dieselbe gelingt, kann es zu verschiedenen Epochen des Geistes verschiedene Formen der Natur geben. Die Natur entwickelt sich mit der Menschheit.
Daher fallen die Ursachen zusammen, welche Naturwissen- schaft und gesetzmäßigen Naturinhalt erzeugen. Unter dieser Auffassung ist die Fragestellung irreführend, warum den Alten die Erkenntnis der Natur verschlossen geblieben sei. Was ihnen Natur war, erkannten sie; was sie nicht erkannten, war ihnen unbestimmtes Erlebnis, daher Gegenstand des Mythos, des Aberglaubens, der Dichtung, wie die Heilkraft des Magnets, die Dämonenwelt der Erde und des Himmels. Man könnte höchstens fragen, warum ihr Denken nicht überhaupt ein anderes war; und darauf kann man keine andere Antwort geben als die Thatsachen der Kulturgeschichte.
Wenn ein Hirtenvolk der Flöte wohllautende Töne entlockt, so gehört diese akustische Erscheinung nicht zur Natur im wissenschaftlichen Sinne, so lange die Produktion derselben auf zufälligem Treffen oder vielfachem Probieren beruht; denn sie enthält keine Gesetzmäßigkeit, welche ihre Objektivität garan- tiert, sie ist nur subjektives Erlebnis. Wenn aber Pythagoras, oder wer es sonst war, die Abhängigkeit der Tonhöhe von der Saitenlänge erkennt, so wird damit der Ton als Naturgegen- stand räumlich objektiviert; er steht jetzt in gesetzmäßiger Beziehung zur Erfahrung, ist wissenschaftliche Erfahrung. Die
Laßwitz. 6
Stufen der objektiven Wirklichkeit.
Die Aufgabe und der Fortschritt der Naturwissenschaft besteht darin, immer weitere Gebiete des unmittelbaren Erleb- nisses der Menschheit zu gesetzlicher Natur zu objektivieren. Das Eintreten einer Mondfinsternis ist für den Wilden nicht Natur, sondern ein übernatürliches Ereignis; es ist gesetzlos, zufällig. Für die Sternkundigen, denen die Wiederkehr der Verfinsterungen nach der Periode des Saros empirisch bekannt war, wurde die Finsternis aus dem fragwürdigen Erlebnis zur objektiven Wirklichkeit; für den modernen Astronomen, der den systematischen Zusammenhang bis auf die Minute beherrscht, ist sie Natur. Für jedes Zeitalter existiert nur soviel Natur (im wissenschaftlichen Sinne), als es durch den gleichzeitigen Standpunkt des Denkens zu schaffen vermag. Dies Erschaffen der Natur aber besteht in der begrifflichen Fixierung des in der sinnlichen Empfindung Gegebenen; je nachdem dieselbe gelingt, kann es zu verschiedenen Epochen des Geistes verschiedene Formen der Natur geben. Die Natur entwickelt sich mit der Menschheit.
Daher fallen die Ursachen zusammen, welche Naturwissen- schaft und gesetzmäßigen Naturinhalt erzeugen. Unter dieser Auffassung ist die Fragestellung irreführend, warum den Alten die Erkenntnis der Natur verschlossen geblieben sei. Was ihnen Natur war, erkannten sie; was sie nicht erkannten, war ihnen unbestimmtes Erlebnis, daher Gegenstand des Mythos, des Aberglaubens, der Dichtung, wie die Heilkraft des Magnets, die Dämonenwelt der Erde und des Himmels. Man könnte höchstens fragen, warum ihr Denken nicht überhaupt ein anderes war; und darauf kann man keine andere Antwort geben als die Thatsachen der Kulturgeschichte.
Wenn ein Hirtenvolk der Flöte wohllautende Töne entlockt, so gehört diese akustische Erscheinung nicht zur Natur im wissenschaftlichen Sinne, so lange die Produktion derselben auf zufälligem Treffen oder vielfachem Probieren beruht; denn sie enthält keine Gesetzmäßigkeit, welche ihre Objektivität garan- tiert, sie ist nur subjektives Erlebnis. Wenn aber Pythagoras, oder wer es sonst war, die Abhängigkeit der Tonhöhe von der Saitenlänge erkennt, so wird damit der Ton als Naturgegen- stand räumlich objektiviert; er steht jetzt in gesetzmäßiger Beziehung zur Erfahrung, ist wissenschaftliche Erfahrung. Die
Laßwitz. 6
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0099"n="81"/><fwplace="top"type="header">Stufen der objektiven Wirklichkeit.</fw><lb/><p>Die Aufgabe und der Fortschritt der Naturwissenschaft<lb/>
besteht darin, immer weitere Gebiete des unmittelbaren Erleb-<lb/>
nisses der Menschheit zu gesetzlicher Natur zu objektivieren.<lb/>
Das Eintreten einer Mondfinsternis ist für den Wilden nicht<lb/>
Natur, sondern ein übernatürliches Ereignis; es ist gesetzlos,<lb/><hirendition="#g">zufällig</hi>. Für die Sternkundigen, denen die Wiederkehr der<lb/>
Verfinsterungen nach der Periode des Saros empirisch bekannt<lb/>
war, wurde die Finsternis aus dem fragwürdigen Erlebnis zur<lb/><hirendition="#g">objektiven Wirklichkeit;</hi> für den modernen Astronomen,<lb/>
der den systematischen Zusammenhang bis auf die Minute<lb/>
beherrscht, ist sie <hirendition="#g">Natur</hi>. Für jedes Zeitalter existiert nur<lb/>
soviel Natur (im wissenschaftlichen Sinne), als es durch den<lb/>
gleichzeitigen Standpunkt des Denkens zu schaffen vermag.<lb/>
Dies Erschaffen der Natur aber besteht in der begrifflichen<lb/>
Fixierung des in der sinnlichen Empfindung Gegebenen; je<lb/>
nachdem dieselbe gelingt, kann es zu verschiedenen Epochen<lb/>
des Geistes verschiedene Formen der Natur geben. Die Natur<lb/>
entwickelt sich mit der Menschheit.</p><lb/><p>Daher fallen die Ursachen zusammen, welche Naturwissen-<lb/>
schaft und gesetzmäßigen Naturinhalt erzeugen. Unter dieser<lb/>
Auffassung ist die Fragestellung irreführend, warum den Alten<lb/>
die Erkenntnis der Natur verschlossen geblieben sei. Was<lb/>
ihnen Natur war, erkannten sie; was sie nicht erkannten, war<lb/>
ihnen unbestimmtes Erlebnis, daher Gegenstand des Mythos,<lb/>
des Aberglaubens, der Dichtung, wie die Heilkraft des Magnets,<lb/>
die Dämonenwelt der Erde und des Himmels. Man könnte<lb/>
höchstens fragen, warum ihr Denken nicht überhaupt ein<lb/>
anderes war; und darauf kann man keine andere Antwort<lb/>
geben als die Thatsachen der Kulturgeschichte.</p><lb/><p>Wenn ein Hirtenvolk der Flöte wohllautende Töne entlockt,<lb/>
so gehört diese akustische Erscheinung nicht zur Natur im<lb/>
wissenschaftlichen Sinne, so lange die Produktion derselben auf<lb/>
zufälligem Treffen oder vielfachem Probieren beruht; denn sie<lb/>
enthält keine Gesetzmäßigkeit, welche ihre Objektivität garan-<lb/>
tiert, sie ist nur subjektives Erlebnis. Wenn aber <hirendition="#k">Pythagoras</hi>,<lb/>
oder wer es sonst war, die Abhängigkeit der Tonhöhe von der<lb/>
Saitenlänge erkennt, so wird damit der Ton als Naturgegen-<lb/>
stand räumlich objektiviert; er steht jetzt in gesetzmäßiger<lb/>
Beziehung zur Erfahrung, ist wissenschaftliche Erfahrung. Die<lb/><fwplace="bottom"type="sig">Laßwitz. 6</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[81/0099]
Stufen der objektiven Wirklichkeit.
Die Aufgabe und der Fortschritt der Naturwissenschaft
besteht darin, immer weitere Gebiete des unmittelbaren Erleb-
nisses der Menschheit zu gesetzlicher Natur zu objektivieren.
Das Eintreten einer Mondfinsternis ist für den Wilden nicht
Natur, sondern ein übernatürliches Ereignis; es ist gesetzlos,
zufällig. Für die Sternkundigen, denen die Wiederkehr der
Verfinsterungen nach der Periode des Saros empirisch bekannt
war, wurde die Finsternis aus dem fragwürdigen Erlebnis zur
objektiven Wirklichkeit; für den modernen Astronomen,
der den systematischen Zusammenhang bis auf die Minute
beherrscht, ist sie Natur. Für jedes Zeitalter existiert nur
soviel Natur (im wissenschaftlichen Sinne), als es durch den
gleichzeitigen Standpunkt des Denkens zu schaffen vermag.
Dies Erschaffen der Natur aber besteht in der begrifflichen
Fixierung des in der sinnlichen Empfindung Gegebenen; je
nachdem dieselbe gelingt, kann es zu verschiedenen Epochen
des Geistes verschiedene Formen der Natur geben. Die Natur
entwickelt sich mit der Menschheit.
Daher fallen die Ursachen zusammen, welche Naturwissen-
schaft und gesetzmäßigen Naturinhalt erzeugen. Unter dieser
Auffassung ist die Fragestellung irreführend, warum den Alten
die Erkenntnis der Natur verschlossen geblieben sei. Was
ihnen Natur war, erkannten sie; was sie nicht erkannten, war
ihnen unbestimmtes Erlebnis, daher Gegenstand des Mythos,
des Aberglaubens, der Dichtung, wie die Heilkraft des Magnets,
die Dämonenwelt der Erde und des Himmels. Man könnte
höchstens fragen, warum ihr Denken nicht überhaupt ein
anderes war; und darauf kann man keine andere Antwort
geben als die Thatsachen der Kulturgeschichte.
Wenn ein Hirtenvolk der Flöte wohllautende Töne entlockt,
so gehört diese akustische Erscheinung nicht zur Natur im
wissenschaftlichen Sinne, so lange die Produktion derselben auf
zufälligem Treffen oder vielfachem Probieren beruht; denn sie
enthält keine Gesetzmäßigkeit, welche ihre Objektivität garan-
tiert, sie ist nur subjektives Erlebnis. Wenn aber Pythagoras,
oder wer es sonst war, die Abhängigkeit der Tonhöhe von der
Saitenlänge erkennt, so wird damit der Ton als Naturgegen-
stand räumlich objektiviert; er steht jetzt in gesetzmäßiger
Beziehung zur Erfahrung, ist wissenschaftliche Erfahrung. Die
Laßwitz. 6
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/99>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.