Laßwitz, Kurd: Seifenblasen. Hamburg, 1890.Aus dem Tagebuche einer Ameise. Flügelsonne 26. Je näher ich die Menschen kennen lerne, um so Aus dem Tagebuche einer Ameiſe. Flügelſonne 26. Je näher ich die Menſchen kennen lerne, um ſo <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0102" n="96"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Aus dem Tagebuche einer Ameiſe.</hi> </fw><lb/> <div n="3"> <head> <hi rendition="#b">Flügelſonne 26.</hi> </head><lb/> <p>Je näher ich die Menſchen kennen lerne, um ſo<lb/> mehr muß ich dieſe unglücklichen Geſchöpfe bedauern.<lb/> Nur das nehmen ſie wahr, worauf ſie direkt ihre Sinne<lb/> richten, und wie eng begrenzt ſind dieſe! Der Erdboden,<lb/> der Träger alles Weltlebens, verſchließt ihnen ſeine un-<lb/> endlichen Feinheiten, bis zu denen ihre blöden Augen<lb/> nicht hinabreichen. Und ſelbſt wenn ſie es thäten, wie<lb/> wenig könnten ſie unterſcheiden! Denn all’ die mannig-<lb/> faltigen, die ſchnellſten Kräuſelungen des Äthers gehen<lb/> ſpurlos an ihren groben Nerven vorüber. Sie fühlen<lb/> nicht den magnetiſchen Pulsſchlag der Erde, nicht die<lb/> Kryſtalliſationskraft der Stoffe, nicht die Verwandtſchaft<lb/> der Säfte und die Spannungen der Pflanzenzellen, das<lb/> Gras hören ſie nicht wachſen und die Muſik der ſich<lb/> teilenden Spaltpilze iſt ihnen verſagt. Nur im be-<lb/> täubenden Tageslicht vermögen ſie ihren Pfad zu finden,<lb/> und achtlos ſtampft ihr breiter Fuß über die Wunder<lb/> der Schöpfung. Jhr Kopf ragt hinein in die hohle,<lb/> geſtaltloſe Luft, in welcher kein Unterſchied und kein<lb/> Gebilde zu erkennen iſt. Welch’ feine Symbolik der<lb/> Natur liegt ſchon hierin, daß der Menſch den Kopf auf-<lb/> gerichtet hält im leeren Nichts, die Ameiſe aber ihn geſenkt<lb/> trägt zum lebensvollen Boden, dem Wohnplatze der<lb/> Uremſenheit. Und während wir hier den Geſetzen des<lb/> Lebens nach ſicherer Leitung folgen, irrt der Menſch,<lb/> ein beklagenswertes Einzelweſen, in ewiger Unbeſtimmtheit<lb/> umher, von ſchwankenden Jnſtinkten getrieben! Einer<lb/> ihrer größten Führer hat geſagt: „Zwei Dinge erfüllen<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [96/0102]
Aus dem Tagebuche einer Ameiſe.
Flügelſonne 26.
Je näher ich die Menſchen kennen lerne, um ſo
mehr muß ich dieſe unglücklichen Geſchöpfe bedauern.
Nur das nehmen ſie wahr, worauf ſie direkt ihre Sinne
richten, und wie eng begrenzt ſind dieſe! Der Erdboden,
der Träger alles Weltlebens, verſchließt ihnen ſeine un-
endlichen Feinheiten, bis zu denen ihre blöden Augen
nicht hinabreichen. Und ſelbſt wenn ſie es thäten, wie
wenig könnten ſie unterſcheiden! Denn all’ die mannig-
faltigen, die ſchnellſten Kräuſelungen des Äthers gehen
ſpurlos an ihren groben Nerven vorüber. Sie fühlen
nicht den magnetiſchen Pulsſchlag der Erde, nicht die
Kryſtalliſationskraft der Stoffe, nicht die Verwandtſchaft
der Säfte und die Spannungen der Pflanzenzellen, das
Gras hören ſie nicht wachſen und die Muſik der ſich
teilenden Spaltpilze iſt ihnen verſagt. Nur im be-
täubenden Tageslicht vermögen ſie ihren Pfad zu finden,
und achtlos ſtampft ihr breiter Fuß über die Wunder
der Schöpfung. Jhr Kopf ragt hinein in die hohle,
geſtaltloſe Luft, in welcher kein Unterſchied und kein
Gebilde zu erkennen iſt. Welch’ feine Symbolik der
Natur liegt ſchon hierin, daß der Menſch den Kopf auf-
gerichtet hält im leeren Nichts, die Ameiſe aber ihn geſenkt
trägt zum lebensvollen Boden, dem Wohnplatze der
Uremſenheit. Und während wir hier den Geſetzen des
Lebens nach ſicherer Leitung folgen, irrt der Menſch,
ein beklagenswertes Einzelweſen, in ewiger Unbeſtimmtheit
umher, von ſchwankenden Jnſtinkten getrieben! Einer
ihrer größten Führer hat geſagt: „Zwei Dinge erfüllen
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