Lied aus dem Wilhelm Meister, was der Harfner und Mignon zu Wilhelms Schmerze singen:
"Nur wer die Sehnsucht kennt, Weiß, was ich leide: Allein und abgetrennt von aller Freude Seh ich an's Firmament Nach jener Seite. Ach wer mich liebt und kennt, Jst in der Weite, Es schwindet mir, es brennt Mein Eingeweide -- Nur wer die Sehnsucht kennt, Weiß, was ich leide!" --
Eigentlich hätte ich das Lied wie Prosa ohne Absatz schreiben sollen, wegen des Papiermangels, aber ich konnte mich nicht dazu entschließen; das Beste, was ich habe, soll ihm stets gewährt sein, ein König kann in Lumpen gehn, aber nicht betteln. Wußt' ich es nicht, so erfuhr ich's durch dieses Lied, daß ich eines feinen, edlen Schmerzes fähig sei; wenn ich noch einmal auf diesem Planeten in glänzende Verhältnisse gelangen könnte, und ich säße unter schimmernder Pracht und prächtigen Menschen und Tönen, und die einfache Sangesweise jenes
Lied aus dem Wilhelm Meiſter, was der Harfner und Mignon zu Wilhelms Schmerze ſingen:
„Nur wer die Sehnſucht kennt, Weiß, was ich leide: Allein und abgetrennt von aller Freude Seh ich an’s Firmament Nach jener Seite. Ach wer mich liebt und kennt, Jſt in der Weite, Es ſchwindet mir, es brennt Mein Eingeweide — Nur wer die Sehnſucht kennt, Weiß, was ich leide!“ —
Eigentlich hätte ich das Lied wie Proſa ohne Abſatz ſchreiben ſollen, wegen des Papiermangels, aber ich konnte mich nicht dazu entſchließen; das Beſte, was ich habe, ſoll ihm ſtets gewährt ſein, ein König kann in Lumpen gehn, aber nicht betteln. Wußt’ ich es nicht, ſo erfuhr ich’s durch dieſes Lied, daß ich eines feinen, edlen Schmerzes fähig ſei; wenn ich noch einmal auf dieſem Planeten in glänzende Verhältniſſe gelangen könnte, und ich ſäße unter ſchimmernder Pracht und prächtigen Menſchen und Tönen, und die einfache Sangesweiſe jenes
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Lied aus dem Wilhelm Meiſter, was der Harfner
und Mignon zu Wilhelms Schmerze ſingen:
„Nur wer die Sehnſucht kennt,
Weiß, was ich leide:
Allein und abgetrennt von aller Freude
Seh ich an’s Firmament
Nach jener Seite.
Ach wer mich liebt und kennt,
Jſt in der Weite,
Es ſchwindet mir, es brennt
Mein Eingeweide —
Nur wer die Sehnſucht kennt,
Weiß, was ich leide!“ —
Eigentlich hätte ich das Lied wie Proſa ohne
Abſatz ſchreiben ſollen, wegen des Papiermangels,
aber ich konnte mich nicht dazu entſchließen; das
Beſte, was ich habe, ſoll ihm ſtets gewährt ſein,
ein König kann in Lumpen gehn, aber nicht betteln.
Wußt’ ich es nicht, ſo erfuhr ich’s durch dieſes
Lied, daß ich eines feinen, edlen Schmerzes fähig
ſei; wenn ich noch einmal auf dieſem Planeten in
glänzende Verhältniſſe gelangen könnte, und ich ſäße
unter ſchimmernder Pracht und prächtigen Menſchen
und Tönen, und die einfache Sangesweiſe jenes
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Laube, Heinrich: Das junge Europa. Bd. 3. Mannheim, 1837, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laube_europa03_1837/101>, abgerufen am 16.02.2025.
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