fortuna. Am Ende ermahnte er mich, ja fleißig zu studieren: die Studia wären wahrer Balsam für Unglückliche. Dabei führte er mir einige Stellen aus Cicero und Ovidius an. Semlers Brief rührte mich im Innern meiner Seele: ich kannte den Mann und wußte, daß seine Worte Realitäten bezeichneten. Ich habe selten den Worten getraut, womit mir je- mand seine Freundschaft und Dienste beweisen wollte: aber bei den Worten einiger redlicher Männer machte ich immer eine Ausnahme, und das war auch bei Semlern der Fall. Semler war der wohlwollend- ste, thätigste Menschenfreund.
Den folgenden Tag -- es war ein Sonn- abend -- war ich viel ruhiger, als den vorigen: ich konnte über alles, was mir begegnete, gehörig nachdenken; und wenn ich nun so meine vorige Lage mit der gegenwärtigen verglich, fand ich diese eben nicht sehr schlimm. Mein natürlicher Leichtsinn kam mir hier, wie sonst bei vielen Vorfällen meines Le- bens, zu statten: ich legte alles auf die leichte Achsel. Es wird schon alles noch gut werden, dacht ich; und wenns nicht gut werden will, je nun, am Ende bleibt dir doch das Mittel übrig, welches keinem Menschen entsteht -- das Pistol oder der Strick. Auch in dieser Vorstellung lag damals Beruhigung und etwas Angenehmes für mich. Die stoische Philosophie ist wahrlich kein dummes System, und der Mensch,
fortuna. Am Ende ermahnte er mich, ja fleißig zu ſtudieren: die Studia waͤren wahrer Balſam fuͤr Ungluͤckliche. Dabei fuͤhrte er mir einige Stellen aus Cicero und Ovidius an. Semlers Brief ruͤhrte mich im Innern meiner Seele: ich kannte den Mann und wußte, daß ſeine Worte Realitaͤten bezeichneten. Ich habe ſelten den Worten getraut, womit mir je- mand ſeine Freundſchaft und Dienſte beweiſen wollte: aber bei den Worten einiger redlicher Maͤnner machte ich immer eine Ausnahme, und das war auch bei Semlern der Fall. Semler war der wohlwollend- ſte, thaͤtigſte Menſchenfreund.
Den folgenden Tag — es war ein Sonn- abend — war ich viel ruhiger, als den vorigen: ich konnte uͤber alles, was mir begegnete, gehoͤrig nachdenken; und wenn ich nun ſo meine vorige Lage mit der gegenwaͤrtigen verglich, fand ich dieſe eben nicht ſehr ſchlimm. Mein natuͤrlicher Leichtſinn kam mir hier, wie ſonſt bei vielen Vorfaͤllen meines Le- bens, zu ſtatten: ich legte alles auf die leichte Achſel. Es wird ſchon alles noch gut werden, dacht ich; und wenns nicht gut werden will, je nun, am Ende bleibt dir doch das Mittel uͤbrig, welches keinem Menſchen entſteht — das Piſtol oder der Strick. Auch in dieſer Vorſtellung lag damals Beruhigung und etwas Angenehmes fuͤr mich. Die ſtoiſche Philoſophie iſt wahrlich kein dummes Syſtem, und der Menſch,
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[244[254]/0256]
fortuna. Am Ende ermahnte er mich, ja fleißig
zu ſtudieren: die Studia waͤren wahrer Balſam fuͤr
Ungluͤckliche. Dabei fuͤhrte er mir einige Stellen
aus Cicero und Ovidius an. Semlers Brief ruͤhrte
mich im Innern meiner Seele: ich kannte den Mann
und wußte, daß ſeine Worte Realitaͤten bezeichneten.
Ich habe ſelten den Worten getraut, womit mir je-
mand ſeine Freundſchaft und Dienſte beweiſen wollte:
aber bei den Worten einiger redlicher Maͤnner machte
ich immer eine Ausnahme, und das war auch bei
Semlern der Fall. Semler war der wohlwollend-
ſte, thaͤtigſte Menſchenfreund.
Den folgenden Tag — es war ein Sonn-
abend — war ich viel ruhiger, als den vorigen:
ich konnte uͤber alles, was mir begegnete, gehoͤrig
nachdenken; und wenn ich nun ſo meine vorige Lage
mit der gegenwaͤrtigen verglich, fand ich dieſe eben
nicht ſehr ſchlimm. Mein natuͤrlicher Leichtſinn kam
mir hier, wie ſonſt bei vielen Vorfaͤllen meines Le-
bens, zu ſtatten: ich legte alles auf die leichte Achſel.
Es wird ſchon alles noch gut werden, dacht ich; und
wenns nicht gut werden will, je nun, am Ende bleibt
dir doch das Mittel uͤbrig, welches keinem Menſchen
entſteht — das Piſtol oder der Strick. Auch in
dieſer Vorſtellung lag damals Beruhigung und etwas
Angenehmes fuͤr mich. Die ſtoiſche Philoſophie iſt
wahrlich kein dummes Syſtem, und der Menſch,
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Laukhard, Friedrich Christian: F. C. Laukhards Leben und Schicksale. Bd. 2. Halle, 1792, S. 244[254]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laukhard_leben02_1792/256>, abgerufen am 24.11.2024.
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