Liebe zur Aufrichtigkeit im Reden und Handeln, ohne welche der Mensch unmöglich gut seyn kann.
Unsre Vernunft, fuhr er fort, irret sich selten in Rücksicht unsrer Pflichten: das mußt du selbst gestehen. Jezt sag mir aber, warum wir so selten unsre Pflichten beobachten?
Ich: Weil wir sinnliche Geschöpfe sind, weil wir, vom Taumel unsrer Leidenschaften hingeris- sen, die Stimme der Vernunft nicht hören, weil wir -- --
Landrin: Larifari! Du sprichst ja, wie der Pfaffe auf der Kanzel! Ich will dir's besser sagen. Deswegen thun wir Böses, weil wir zu viel Gu- tes thun sollen, weil man uns zuviel Pflichten auf- bürdet.
Ich: Ich verstehe Dich nicht, Kapitän.
Landrin: Will Dir's erklären. Man hat von allen Zeiten her die wahren natürlichen Pflich- ten der Menschen nicht gehörig gekannt, und da- her hat man Zeug zu menschlichen Schuldigkeiten gemacht, das niemals wirkliche natürliche Schul- digkeit war. Alle Gesetzgeber sind in diesen Fehler gefallen, indem sie von Pflichten gegen Gott und gegen den Nebenmenschen räsonnirt haben. Denn schau, Bruder, es giebt keine Pflichten gegen Gott, weil wir mit Gott in keinem Kontrakt ste- hen, und es giebt auch keine Pflichten gegen den
Liebe zur Aufrichtigkeit im Reden und Handeln, ohne welche der Menſch unmoͤglich gut ſeyn kann.
Unſre Vernunft, fuhr er fort, irret ſich ſelten in Ruͤckſicht unſrer Pflichten: das mußt du ſelbſt geſtehen. Jezt ſag mir aber, warum wir ſo ſelten unſre Pflichten beobachten?
Ich: Weil wir ſinnliche Geſchoͤpfe ſind, weil wir, vom Taumel unſrer Leidenſchaften hingeriſ- ſen, die Stimme der Vernunft nicht hoͤren, weil wir — —
Landrin: Larifari! Du ſprichſt ja, wie der Pfaffe auf der Kanzel! Ich will dir's beſſer ſagen. Deswegen thun wir Boͤſes, weil wir zu viel Gu- tes thun ſollen, weil man uns zuviel Pflichten auf- buͤrdet.
Ich: Ich verſtehe Dich nicht, Kapitaͤn.
Landrin: Will Dir's erklaͤren. Man hat von allen Zeiten her die wahren natuͤrlichen Pflich- ten der Menſchen nicht gehoͤrig gekannt, und da- her hat man Zeug zu menſchlichen Schuldigkeiten gemacht, das niemals wirkliche natuͤrliche Schul- digkeit war. Alle Geſetzgeber ſind in dieſen Fehler gefallen, indem ſie von Pflichten gegen Gott und gegen den Nebenmenſchen raͤſonnirt haben. Denn ſchau, Bruder, es giebt keine Pflichten gegen Gott, weil wir mit Gott in keinem Kontrakt ſte- hen, und es giebt auch keine Pflichten gegen den
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Liebe zur Aufrichtigkeit im Reden und Handeln,
ohne welche der Menſch unmoͤglich gut ſeyn kann.
Unſre Vernunft, fuhr er fort, irret ſich ſelten
in Ruͤckſicht unſrer Pflichten: das mußt du ſelbſt
geſtehen. Jezt ſag mir aber, warum wir ſo ſelten
unſre Pflichten beobachten?
Ich: Weil wir ſinnliche Geſchoͤpfe ſind, weil
wir, vom Taumel unſrer Leidenſchaften hingeriſ-
ſen, die Stimme der Vernunft nicht hoͤren, weil
wir — —
Landrin: Larifari! Du ſprichſt ja, wie der
Pfaffe auf der Kanzel! Ich will dir's beſſer ſagen.
Deswegen thun wir Boͤſes, weil wir zu viel Gu-
tes thun ſollen, weil man uns zuviel Pflichten auf-
buͤrdet.
Ich: Ich verſtehe Dich nicht, Kapitaͤn.
Landrin: Will Dir's erklaͤren. Man hat
von allen Zeiten her die wahren natuͤrlichen Pflich-
ten der Menſchen nicht gehoͤrig gekannt, und da-
her hat man Zeug zu menſchlichen Schuldigkeiten
gemacht, das niemals wirkliche natuͤrliche Schul-
digkeit war. Alle Geſetzgeber ſind in dieſen Fehler
gefallen, indem ſie von Pflichten gegen Gott und
gegen den Nebenmenſchen raͤſonnirt haben. Denn
ſchau, Bruder, es giebt keine Pflichten gegen
Gott, weil wir mit Gott in keinem Kontrakt ſte-
hen, und es giebt auch keine Pflichten gegen den
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Laukhard, Friedrich Christian: F. C. Laukhards Leben und Schicksale. Bd. 4,1. Leipzig, 1797, S. 325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laukhard_leben0401_1797/329>, abgerufen am 21.11.2024.
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