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Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.

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Sehen und Hören.
glauben. Weil sie die Liebe der Wahrheit nicht
haben angenommen, so sendet ihnen Gott kräf-
tige Irrthümer, auf daß alle gerichtet werden,
so der Wahrheit nicht geglaubt haben.

112.
Sehendes Aug; Hörendes Ohr.

Seelig sind euere Augen, daß sie sehen, undMatth.
XIII. 16.

euere Ohren, daß sie hören. Die größte Gnade,
die ein Mensch empfangen kann, ist die Gnade zu sehen,
und zu hören; Zerstreutheit, Unaufmerksamkeit, flüchti-
ges Wesen, starres Staunen, ist den meisten Menschen
natürlich. Sehr wenige hören, was man ihnen sagt;
Sehen, was ihnen sich darstellt, sie übersehen gemeiniglich
das Gegenwärtige und eilen mit ihren Blicken in die Zu-
kunft hinaus. Sie hören nicht -- Indem sie hören,
denken sie schon wieder auf Antwort; Das was sie sa-
gen wollen, schwebt ihnen schon auf der Lippe. Ihre
einmahl gefassten Meynungen, ihre einmahl gefällten Ur-
theile machen ihnen jede neue Wahrheit unzugänglich.
Entweder denken sie: Sie wissen alles schon, oder sie
wollen nichts weiter wissen. Sie hören immerdar, und
vernehmen nichts. Sie lernen immerdar, und kommen
nicht zur Erkenntniß der Wahrheit. Sie laufen immer,
ohne daß sie dem Ziel' um Einen Schritt näher kommen
-- wie glücklich der hingegen, der hören und sehen kann;
Der immer ein offnes Ohr hat für die Wahrheit; Dem
alles um Gottes willen willkommen ist; Der für alles
Gute, Edle, Göttliche Raum hat in seinem Herzen --

was
M 4

Sehen und Hören.
glauben. Weil ſie die Liebe der Wahrheit nicht
haben angenommen, ſo ſendet ihnen Gott kräf-
tige Irrthümer, auf daß alle gerichtet werden,
ſo der Wahrheit nicht geglaubt haben.

112.
Sehendes Aug; Hörendes Ohr.

Seelig ſind euere Augen, daß ſie ſehen, undMatth.
XIII. 16.

euere Ohren, daß ſie hören. Die größte Gnade,
die ein Menſch empfangen kann, iſt die Gnade zu ſehen,
und zu hören; Zerſtreutheit, Unaufmerkſamkeit, flüchti-
ges Weſen, ſtarres Staunen, iſt den meiſten Menſchen
natürlich. Sehr wenige hören, was man ihnen ſagt;
Sehen, was ihnen ſich darſtellt, ſie überſehen gemeiniglich
das Gegenwärtige und eilen mit ihren Blicken in die Zu-
kunft hinaus. Sie hören nicht — Indem ſie hören,
denken ſie ſchon wieder auf Antwort; Das was ſie ſa-
gen wollen, ſchwebt ihnen ſchon auf der Lippe. Ihre
einmahl gefaſſten Meynungen, ihre einmahl gefällten Ur-
theile machen ihnen jede neue Wahrheit unzugänglich.
Entweder denken ſie: Sie wiſſen alles ſchon, oder ſie
wollen nichts weiter wiſſen. Sie hören immerdar, und
vernehmen nichts. Sie lernen immerdar, und kommen
nicht zur Erkenntniß der Wahrheit. Sie laufen immer,
ohne daß ſie dem Ziel’ um Einen Schritt näher kommen
— wie glücklich der hingegen, der hören und ſehen kann;
Der immer ein offnes Ohr hat für die Wahrheit; Dem
alles um Gottes willen willkommen iſt; Der für alles
Gute, Edle, Göttliche Raum hat in ſeinem Herzen —

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[183[203]/0211] Sehen und Hören. glauben. Weil ſie die Liebe der Wahrheit nicht haben angenommen, ſo ſendet ihnen Gott kräf- tige Irrthümer, auf daß alle gerichtet werden, ſo der Wahrheit nicht geglaubt haben. 112. Sehendes Aug; Hörendes Ohr. Seelig ſind euere Augen, daß ſie ſehen, und euere Ohren, daß ſie hören. Die größte Gnade, die ein Menſch empfangen kann, iſt die Gnade zu ſehen, und zu hören; Zerſtreutheit, Unaufmerkſamkeit, flüchti- ges Weſen, ſtarres Staunen, iſt den meiſten Menſchen natürlich. Sehr wenige hören, was man ihnen ſagt; Sehen, was ihnen ſich darſtellt, ſie überſehen gemeiniglich das Gegenwärtige und eilen mit ihren Blicken in die Zu- kunft hinaus. Sie hören nicht — Indem ſie hören, denken ſie ſchon wieder auf Antwort; Das was ſie ſa- gen wollen, ſchwebt ihnen ſchon auf der Lippe. Ihre einmahl gefaſſten Meynungen, ihre einmahl gefällten Ur- theile machen ihnen jede neue Wahrheit unzugänglich. Entweder denken ſie: Sie wiſſen alles ſchon, oder ſie wollen nichts weiter wiſſen. Sie hören immerdar, und vernehmen nichts. Sie lernen immerdar, und kommen nicht zur Erkenntniß der Wahrheit. Sie laufen immer, ohne daß ſie dem Ziel’ um Einen Schritt näher kommen — wie glücklich der hingegen, der hören und ſehen kann; Der immer ein offnes Ohr hat für die Wahrheit; Dem alles um Gottes willen willkommen iſt; Der für alles Gute, Edle, Göttliche Raum hat in ſeinem Herzen — was Matth. XIII. 16. M 4

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 183[203]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/211>, abgerufen am 04.12.2024.