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Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.

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Petrus und der Zinsgroschen.
noch deswegen nicht verwerflich -- obgleich höchstunvoll-
kommen. Liebe soll ihn beseelen und beleben. Liebe soll
ihm einen sittlichen Werth geben. Liebe soll ihn als
Hand als Werkzeug der Hülfe brauchen. Liebe, Drang
der Liebe, inniges, warmes, dringendes Bedürfniß
zu helfen rufe gleichsam gen Himmel -- Herr! Ich
glaube! Komm zu Hülfe meinem schwachen
Glauben!
Was war vernünftiger, als dieser Herzens-
ruf des beklommenen Vaters? Welche Vernunft findet
da was zu lachen? Und nun -- Lebt der nicht mehr,
der also angeflehet ward? Oder hat sich die menschliche
Natur seither so verändert, daß sie das Elend nicht
mehr empfindt? Nicht mehr davon gedrückt wird? Nicht
mehr nach Hülfe sich sehnen darf und soll? Kann Chri-
stus
nichts mehr, seit Er im Himmel ist? Oder hat Er
sich und seine Gesinnungen seither geändert? Wird Er
itzt loben, was er vormals tadelte? Tadeln und ver-
werfen, was Er vormals lobte? Ist itzt das Evangelium,
itzt das seine Lehre geworden: Wir sollen nicht
glauben? Glauben sey Thorheit, Unsinn, Schwärme-
rey? Ist's weise, oder lästerlich zu denken, daß Er
mit den Lachern unsrer Zeit mitlachen würde? -- Ver-
zeiht mir, Leser dieser Schrift, oder vielmehr, verzeihts
unserm Glaubenlosen Zeitalter, daß ich solche Fragen
an Christen thun muß! Wohl euch, die nicht wissen,
warum ich sie thun muß?

138.
Petrus und der Zinsgroschen.

Da sie nun gen Capernaum kamen, giengenMatth.
XVII. 24-27

zu Petro, die den Zinsgroschen einnahmen, und

spra-
Q 3

Petrus und der Zinsgroſchen.
noch deswegen nicht verwerflich — obgleich höchſtunvoll-
kommen. Liebe ſoll ihn beſeelen und beleben. Liebe ſoll
ihm einen ſittlichen Werth geben. Liebe ſoll ihn als
Hand als Werkzeug der Hülfe brauchen. Liebe, Drang
der Liebe, inniges, warmes, dringendes Bedürfniß
zu helfen rufe gleichſam gen Himmel — Herr! Ich
glaube! Komm zu Hülfe meinem ſchwachen
Glauben!
Was war vernünftiger, als dieſer Herzens-
ruf des beklommenen Vaters? Welche Vernunft findet
da was zu lachen? Und nun — Lebt der nicht mehr,
der alſo angeflehet ward? Oder hat ſich die menſchliche
Natur ſeither ſo verändert, daß ſie das Elend nicht
mehr empfindt? Nicht mehr davon gedrückt wird? Nicht
mehr nach Hülfe ſich ſehnen darf und ſoll? Kann Chri-
ſtus
nichts mehr, ſeit Er im Himmel iſt? Oder hat Er
ſich und ſeine Geſinnungen ſeither geändert? Wird Er
itzt loben, was er vormals tadelte? Tadeln und ver-
werfen, was Er vormals lobte? Iſt itzt das Evangelium,
itzt das ſeine Lehre geworden: Wir ſollen nicht
glauben? Glauben ſey Thorheit, Unſinn, Schwärme-
rey? Iſt’s weiſe, oder läſterlich zu denken, daß Er
mit den Lachern unſrer Zeit mitlachen würde? — Ver-
zeiht mir, Leſer dieſer Schrift, oder vielmehr, verzeihts
unſerm Glaubenloſen Zeitalter, daß ich ſolche Fragen
an Chriſten thun muß! Wohl euch, die nicht wiſſen,
warum ich ſie thun muß?

138.
Petrus und der Zinsgroſchen.

Da ſie nun gen Capernaum kamen, giengenMatth.
XVII. 24-27

zu Petro, die den Zinsgroſchen einnahmen, und

ſpra-
Q 3
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[245[265]/0273] Petrus und der Zinsgroſchen. noch deswegen nicht verwerflich — obgleich höchſtunvoll- kommen. Liebe ſoll ihn beſeelen und beleben. Liebe ſoll ihm einen ſittlichen Werth geben. Liebe ſoll ihn als Hand als Werkzeug der Hülfe brauchen. Liebe, Drang der Liebe, inniges, warmes, dringendes Bedürfniß zu helfen rufe gleichſam gen Himmel — Herr! Ich glaube! Komm zu Hülfe meinem ſchwachen Glauben! Was war vernünftiger, als dieſer Herzens- ruf des beklommenen Vaters? Welche Vernunft findet da was zu lachen? Und nun — Lebt der nicht mehr, der alſo angeflehet ward? Oder hat ſich die menſchliche Natur ſeither ſo verändert, daß ſie das Elend nicht mehr empfindt? Nicht mehr davon gedrückt wird? Nicht mehr nach Hülfe ſich ſehnen darf und ſoll? Kann Chri- ſtus nichts mehr, ſeit Er im Himmel iſt? Oder hat Er ſich und ſeine Geſinnungen ſeither geändert? Wird Er itzt loben, was er vormals tadelte? Tadeln und ver- werfen, was Er vormals lobte? Iſt itzt das Evangelium, itzt das ſeine Lehre geworden: Wir ſollen nicht glauben? Glauben ſey Thorheit, Unſinn, Schwärme- rey? Iſt’s weiſe, oder läſterlich zu denken, daß Er mit den Lachern unſrer Zeit mitlachen würde? — Ver- zeiht mir, Leſer dieſer Schrift, oder vielmehr, verzeihts unſerm Glaubenloſen Zeitalter, daß ich ſolche Fragen an Chriſten thun muß! Wohl euch, die nicht wiſſen, warum ich ſie thun muß? 138. Petrus und der Zinsgroſchen. Da ſie nun gen Capernaum kamen, giengen zu Petro, die den Zinsgroſchen einnahmen, und ſpra- Matth. XVII. 24-27 Q 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 245[265]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/273>, abgerufen am 27.11.2024.