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Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.

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Pharisäische Blindheit und Narrheit.
wurde. Der Tempel gab dem Schatze seinen Werth,
war also offenbar selbst vom höherm Werthe als der
Schatz -- das, welches heiliget, ist grösser als
das, was geheiliget wird.

Wenn das Licht in dir Finsterniß ist, wieMatth.
VI. 23.

groß wird dann die Finsterniß seyn! Wer oft mit
Fleiß schief siehet, wer sich oft dem Eindrucke, den ei-
ne Sache auf ihn gemacht hat, entziehet, oder dagegen
verhärtet, wer sich oft Uebertretung seines Wahrheit-
sinnes erlaubt -- dem wird endlich die auffallendste Un-
vernunft so viel gelten als Weisheit, und die ärgste
Narrheit Verstand scheinen. Der Wahrheitssinn stirbt
endlich unter der Hand seines Henkers -- der Schalk-
heit und Heucheley.

Aber da wollen wir auch, liebe Leser, die Prü-
fungsfrage an unser Herz nicht vergessen: Giebts nicht
auch unter uns Blindheit und Narrheit, die ein Apo-
stolischer Mann, die Jesus Christus uns vorzuwerfen
hätte? Könnte Er, könnte einer Seiner Apostel nicht etwa
auch zu uns sagen: "Ihr Blinde, die ihr wähnet: Wer
&q;seinen Feinden fluchet, und sich an seinen Beleidigern rä-
&q;chet -- das ist nichts; Wer aber die Kirche versäumet,
&q;dem ist es Sünde! Wer seinen Sonntag in Trink-
&q;und Spielgesellschaften zubringt, das ist nicht's; Aber
&q;wer am Sonntage in seinem Beruf arbeitet, dem ist
&q;es Sünde. -- Wer seinen Bruder heimlich verläumdet,
&q;das ist nichts; Aber wer dem Heuchler die Larve wegreißt
&q;und dem Schalke nach seiner Schalkheit antwortet,

&q;dem

Phariſäiſche Blindheit und Narrheit.
wurde. Der Tempel gab dem Schatze ſeinen Werth,
war alſo offenbar ſelbſt vom höherm Werthe als der
Schatz — das, welches heiliget, iſt gröſſer als
das, was geheiliget wird.

Wenn das Licht in dir Finſterniß iſt, wieMatth.
VI. 23.

groß wird dann die Finſterniß ſeyn! Wer oft mit
Fleiß ſchief ſiehet, wer ſich oft dem Eindrucke, den ei-
ne Sache auf ihn gemacht hat, entziehet, oder dagegen
verhärtet, wer ſich oft Uebertretung ſeines Wahrheit-
ſinnes erlaubt — dem wird endlich die auffallendſte Un-
vernunft ſo viel gelten als Weisheit, und die ärgſte
Narrheit Verſtand ſcheinen. Der Wahrheitsſinn ſtirbt
endlich unter der Hand ſeines Henkers — der Schalk-
heit und Heucheley.

Aber da wollen wir auch, liebe Leſer, die Prü-
fungsfrage an unſer Herz nicht vergeſſen: Giebts nicht
auch unter uns Blindheit und Narrheit, die ein Apo-
ſtoliſcher Mann, die Jeſus Chriſtus uns vorzuwerfen
hätte? Könnte Er, könnte einer Seiner Apoſtel nicht etwa
auch zu uns ſagen: „Ihr Blinde, die ihr wähnet: Wer
&q;ſeinen Feinden fluchet, und ſich an ſeinen Beleidigern rä-
&q;chet — das iſt nichts; Wer aber die Kirche verſäumet,
&q;dem iſt es Sünde! Wer ſeinen Sonntag in Trink-
&q;und Spielgeſellſchaften zubringt, das iſt nicht’s; Aber
&q;wer am Sonntage in ſeinem Beruf arbeitet, dem iſt
&q;es Sünde. — Wer ſeinen Bruder heimlich verläumdet,
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[363[383]/0391] Phariſäiſche Blindheit und Narrheit. wurde. Der Tempel gab dem Schatze ſeinen Werth, war alſo offenbar ſelbſt vom höherm Werthe als der Schatz — das, welches heiliget, iſt gröſſer als das, was geheiliget wird. Wenn das Licht in dir Finſterniß iſt, wie groß wird dann die Finſterniß ſeyn! Wer oft mit Fleiß ſchief ſiehet, wer ſich oft dem Eindrucke, den ei- ne Sache auf ihn gemacht hat, entziehet, oder dagegen verhärtet, wer ſich oft Uebertretung ſeines Wahrheit- ſinnes erlaubt — dem wird endlich die auffallendſte Un- vernunft ſo viel gelten als Weisheit, und die ärgſte Narrheit Verſtand ſcheinen. Der Wahrheitsſinn ſtirbt endlich unter der Hand ſeines Henkers — der Schalk- heit und Heucheley. Matth. VI. 23. Aber da wollen wir auch, liebe Leſer, die Prü- fungsfrage an unſer Herz nicht vergeſſen: Giebts nicht auch unter uns Blindheit und Narrheit, die ein Apo- ſtoliſcher Mann, die Jeſus Chriſtus uns vorzuwerfen hätte? Könnte Er, könnte einer Seiner Apoſtel nicht etwa auch zu uns ſagen: „Ihr Blinde, die ihr wähnet: Wer &q;ſeinen Feinden fluchet, und ſich an ſeinen Beleidigern rä- &q;chet — das iſt nichts; Wer aber die Kirche verſäumet, &q;dem iſt es Sünde! Wer ſeinen Sonntag in Trink- &q;und Spielgeſellſchaften zubringt, das iſt nicht’s; Aber &q;wer am Sonntage in ſeinem Beruf arbeitet, dem iſt &q;es Sünde. — Wer ſeinen Bruder heimlich verläumdet, &q;das iſt nichts; Aber wer dem Heuchler die Larve wegreißt &q;und dem Schalke nach ſeiner Schalkheit antwortet, &q;dem

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 363[383]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/391>, abgerufen am 23.11.2024.