Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.

Bild:
<< vorherige Seite
Matthäus XXIII.
175.
Wehmuth Christus über unverbesserliche
Menschen.
Matth.
XXIII. 37.

Jerusalem! Jerusalem! Die du die Prophe-
ten tödtest und die, welche zu dir gesendet wer-

Luc. XIII.
34.
den, versteinigest -- wie oft habe Ich deine Kin-
der versammeln wollen, welcher Maassen eine
Henne ihre Jungen unter die Flügel versammelt
-- und Ihr habet nicht gewollt.

Wer kann diese Klage der innigsten Wehmuth oh-
ne tiefe Rührung, ohne Thränen lesen! O du ewige,
unergründliche Langmuth und Güte, welches Herz ver-
mag dich würdig zu empfinden! O du treuster Hirt --
So liegt dir das Verlohrne am Herzen, so suchest du
es, so weinest und traurest du, wenn's vor dir fliehet,
wenn's deine Hirtenstimme nicht mehr kennen will!

Jerusalem -- die Stadt des lebendigen Gottes!
Und ach, die Prophetenmörderin -- die Gottesverges-
senste aller Städte! Die Erwählte, die sich selber ver-
warf, sich dem aus den Händen rang, der sie erwählet
hatte -- die den größten Gottesseegen, nach welchem
Propheten und Gerechte sich von jeher gesehnet hatten,
von sich stieß -- ans Creutz anheftete den Heiligsten
Gottes, den Ersten und Letzten aller Propheten und
Gerechten. Innige Wehmuth war jeder Gedanke, jeder
Blick des Herrn auf diese zu der erhabensten Ehre er-
wählte, die erhabenste Ehre in unauslöschliche Schan-
de verwandelnde Stadt. Weit entfernt von ihrem Gott,

tief
Matthäus XXIII.
175.
Wehmuth Chriſtus über unverbeſſerliche
Menſchen.
Matth.
XXIII. 37.

Jeruſalem! Jeruſalem! Die du die Prophe-
ten tödteſt und die, welche zu dir geſendet wer-

Luc. XIII.
34.
den, verſteinigeſt — wie oft habe Ich deine Kin-
der verſammeln wollen, welcher Maaſſen eine
Henne ihre Jungen unter die Flügel verſammelt
— und Ihr habet nicht gewollt.

Wer kann dieſe Klage der innigſten Wehmuth oh-
ne tiefe Rührung, ohne Thränen leſen! O du ewige,
unergründliche Langmuth und Güte, welches Herz ver-
mag dich würdig zu empfinden! O du treuſter Hirt —
So liegt dir das Verlohrne am Herzen, ſo ſucheſt du
es, ſo weineſt und traureſt du, wenn’s vor dir fliehet,
wenn’s deine Hirtenſtimme nicht mehr kennen will!

Jeruſalem — die Stadt des lebendigen Gottes!
Und ach, die Prophetenmörderin — die Gottesvergeſ-
ſenſte aller Städte! Die Erwählte, die ſich ſelber ver-
warf, ſich dem aus den Händen rang, der ſie erwählet
hatte — die den größten Gottesſeegen, nach welchem
Propheten und Gerechte ſich von jeher geſehnet hatten,
von ſich ſtieß — ans Creutz anheftete den Heiligſten
Gottes, den Erſten und Letzten aller Propheten und
Gerechten. Innige Wehmuth war jeder Gedanke, jeder
Blick des Herrn auf dieſe zu der erhabenſten Ehre er-
wählte, die erhabenſte Ehre in unauslöſchliche Schan-
de verwandelnde Stadt. Weit entfernt von ihrem Gott,

tief
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0400" n="372[392]"/>
          <fw place="top" type="header">Matthäus <hi rendition="#aq">XXIII.</hi></fw><lb/>
          <div n="3">
            <head>175.<lb/>
Wehmuth Chri&#x017F;tus über unverbe&#x017F;&#x017F;erliche<lb/>
Men&#x017F;chen.</head><lb/>
            <note place="left">Matth.<lb/><hi rendition="#aq">XXIII.</hi> 37.</note>
            <p> <hi rendition="#fr">Jeru&#x017F;alem! Jeru&#x017F;alem! Die du die Prophe-<lb/>
ten tödte&#x017F;t und die, welche zu dir ge&#x017F;endet wer-</hi><lb/>
              <note place="left">Luc. <hi rendition="#aq">XIII.</hi><lb/>
34.</note> <hi rendition="#fr">den, ver&#x017F;teinige&#x017F;t &#x2014; wie oft habe Ich deine Kin-<lb/>
der ver&#x017F;ammeln wollen, welcher Maa&#x017F;&#x017F;en eine<lb/>
Henne ihre Jungen unter die Flügel ver&#x017F;ammelt<lb/>
&#x2014; und Ihr habet nicht gewollt.</hi> </p><lb/>
            <p>Wer kann die&#x017F;e Klage der innig&#x017F;ten Wehmuth oh-<lb/>
ne tiefe Rührung, ohne Thränen le&#x017F;en! O du ewige,<lb/>
unergründliche Langmuth und Güte, welches Herz ver-<lb/>
mag dich würdig zu empfinden! O du treu&#x017F;ter Hirt &#x2014;<lb/>
So liegt dir das Verlohrne am Herzen, &#x017F;o &#x017F;uche&#x017F;t du<lb/>
es, &#x017F;o weine&#x017F;t und traure&#x017F;t du, wenn&#x2019;s vor dir fliehet,<lb/>
wenn&#x2019;s deine Hirten&#x017F;timme nicht mehr kennen will!</p><lb/>
            <p>Jeru&#x017F;alem &#x2014; die Stadt des lebendigen Gottes!<lb/>
Und ach, die Prophetenmörderin &#x2014; die Gottesverge&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en&#x017F;te aller Städte! Die Erwählte, die &#x017F;ich &#x017F;elber ver-<lb/>
warf, &#x017F;ich dem aus den Händen rang, der &#x017F;ie erwählet<lb/>
hatte &#x2014; die den größten Gottes&#x017F;eegen, nach welchem<lb/>
Propheten und Gerechte &#x017F;ich von jeher ge&#x017F;ehnet hatten,<lb/>
von &#x017F;ich &#x017F;tieß &#x2014; ans Creutz anheftete den Heilig&#x017F;ten<lb/>
Gottes, den Er&#x017F;ten und Letzten aller Propheten und<lb/>
Gerechten. Innige Wehmuth war jeder Gedanke, jeder<lb/>
Blick des Herrn auf die&#x017F;e zu der erhaben&#x017F;ten Ehre er-<lb/>
wählte, die erhaben&#x017F;te Ehre in unauslö&#x017F;chliche Schan-<lb/>
de verwandelnde Stadt. Weit entfernt von ihrem Gott,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">tief</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[372[392]/0400] Matthäus XXIII. 175. Wehmuth Chriſtus über unverbeſſerliche Menſchen. Jeruſalem! Jeruſalem! Die du die Prophe- ten tödteſt und die, welche zu dir geſendet wer- den, verſteinigeſt — wie oft habe Ich deine Kin- der verſammeln wollen, welcher Maaſſen eine Henne ihre Jungen unter die Flügel verſammelt — und Ihr habet nicht gewollt. Luc. XIII. 34. Wer kann dieſe Klage der innigſten Wehmuth oh- ne tiefe Rührung, ohne Thränen leſen! O du ewige, unergründliche Langmuth und Güte, welches Herz ver- mag dich würdig zu empfinden! O du treuſter Hirt — So liegt dir das Verlohrne am Herzen, ſo ſucheſt du es, ſo weineſt und traureſt du, wenn’s vor dir fliehet, wenn’s deine Hirtenſtimme nicht mehr kennen will! Jeruſalem — die Stadt des lebendigen Gottes! Und ach, die Prophetenmörderin — die Gottesvergeſ- ſenſte aller Städte! Die Erwählte, die ſich ſelber ver- warf, ſich dem aus den Händen rang, der ſie erwählet hatte — die den größten Gottesſeegen, nach welchem Propheten und Gerechte ſich von jeher geſehnet hatten, von ſich ſtieß — ans Creutz anheftete den Heiligſten Gottes, den Erſten und Letzten aller Propheten und Gerechten. Innige Wehmuth war jeder Gedanke, jeder Blick des Herrn auf dieſe zu der erhabenſten Ehre er- wählte, die erhabenſte Ehre in unauslöſchliche Schan- de verwandelnde Stadt. Weit entfernt von ihrem Gott, tief

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/400
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 372[392]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/400>, abgerufen am 27.07.2024.