Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.

Bild:
<< vorherige Seite

Erdbeben. Vorhang.
zu erheben. Die Natur und die Kunst zittern und de-
müthigen sich vor dem Tode desselben, der ihr beyder
Herr ist. Alles scheint über dem unerforschlichen Ge-
heimniß in einem ehrfurchtsvollen Erstaunen zu schaudern.

Erst schien die Gottheit ihr Angesicht zu verbergen,
und sich in einen Mantel des Mißfallens zu verhüllen --
Nun zerreißt Sie gleichsam ihr Kleid, indem der dichte
Vorhang des Tempels, der das Heilige von dem Aller-
heiligsten sönderte, von oben bis unten auf Einmahl
wunderbarer Weise zerrissen war. Kräftiger, geheim-
nißvoller, vieldeutiger, erweckender fürs Nachdenken
und die Empfindung konnte die Gottheit nicht sprechen.
Schreckenvoller für die Sünder, denen jede Revolution
jeder Sturm der Natur anders nicht als Zorn Gottes,
Strafe
und Gericht Gottes vorkommen kann und
soll -- Erfreulicher für die Verehrer Jesu, die das al-
les für anders nicht, als warnendes Gericht Gottes
über die Verfolger Jesu -- mithin als eine Unschulds-
erklärung Jesu von Seite Gottes ansehen konnten --
besonders, wenn sie wenige Tage nachher der Erschei-
nung auferstandener Heiligen gewürdigt wurden. Nicht
umsonst hatte Christus auf Gott vertraut -- der, wel-
cher Ihn rechtfertigte, war nahe. Der tiefstanbe-
thenden, schweigendsten Geduld geht, möcht' ich sagen,
die sprechende Gottheit auf den Fuß nach. Nur aus-
geharrt Dulder und Dulderinn! Kaum hast du dein
Auge geschlossen; Kaum deinen Geist den Händen des
Vaters empfohlen -- Kaum zum letztenmahl, und im
Herabfahren in den Staub deine Kniee vor dem gebogen,

der
L l

Erdbeben. Vorhang.
zu erheben. Die Natur und die Kunſt zittern und de-
müthigen ſich vor dem Tode deſſelben, der ihr beyder
Herr iſt. Alles ſcheint über dem unerforſchlichen Ge-
heimniß in einem ehrfurchtsvollen Erſtaunen zu ſchaudern.

Erſt ſchien die Gottheit ihr Angeſicht zu verbergen,
und ſich in einen Mantel des Mißfallens zu verhüllen —
Nun zerreißt Sie gleichſam ihr Kleid, indem der dichte
Vorhang des Tempels, der das Heilige von dem Aller-
heiligſten ſönderte, von oben bis unten auf Einmahl
wunderbarer Weiſe zerriſſen war. Kräftiger, geheim-
nißvoller, vieldeutiger, erweckender fürs Nachdenken
und die Empfindung konnte die Gottheit nicht ſprechen.
Schreckenvoller für die Sünder, denen jede Revolution
jeder Sturm der Natur anders nicht als Zorn Gottes,
Strafe
und Gericht Gottes vorkommen kann und
ſoll — Erfreulicher für die Verehrer Jeſu, die das al-
les für anders nicht, als warnendes Gericht Gottes
über die Verfolger Jeſu — mithin als eine Unſchulds-
erklärung Jeſu von Seite Gottes anſehen konnten —
beſonders, wenn ſie wenige Tage nachher der Erſchei-
nung auferſtandener Heiligen gewürdigt wurden. Nicht
umſonſt hatte Chriſtus auf Gott vertraut — der, wel-
cher Ihn rechtfertigte, war nahe. Der tiefſtanbe-
thenden, ſchweigendſten Geduld geht, möcht’ ich ſagen,
die ſprechende Gottheit auf den Fuß nach. Nur aus-
geharrt Dulder und Dulderinn! Kaum haſt du dein
Auge geſchloſſen; Kaum deinen Geiſt den Händen des
Vaters empfohlen — Kaum zum letztenmahl, und im
Herabfahren in den Staub deine Kniee vor dem gebogen,

der
L l
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0557" n="529[549]"/><fw place="top" type="header">Erdbeben. Vorhang.</fw><lb/>
zu erheben. Die <hi rendition="#fr">Natur</hi> und die <hi rendition="#fr">Kun&#x017F;t</hi> zittern und de-<lb/>
müthigen &#x017F;ich vor dem Tode de&#x017F;&#x017F;elben, der ihr beyder<lb/>
Herr i&#x017F;t. Alles &#x017F;cheint über dem unerfor&#x017F;chlichen Ge-<lb/>
heimniß in einem ehrfurchtsvollen Er&#x017F;taunen zu &#x017F;chaudern.</p><lb/>
            <p>Er&#x017F;t &#x017F;chien die Gottheit ihr Ange&#x017F;icht zu verbergen,<lb/>
und &#x017F;ich in einen Mantel des Mißfallens zu verhüllen &#x2014;<lb/>
Nun zerreißt Sie gleich&#x017F;am ihr Kleid, indem der dichte<lb/>
Vorhang des Tempels, der das Heilige von dem Aller-<lb/>
heilig&#x017F;ten &#x017F;önderte, von oben bis unten auf Einmahl<lb/>
wunderbarer Wei&#x017F;e zerri&#x017F;&#x017F;en war. Kräftiger, geheim-<lb/>
nißvoller, vieldeutiger, erweckender fürs Nachdenken<lb/>
und die Empfindung konnte die Gottheit nicht &#x017F;prechen.<lb/>
Schreckenvoller für die Sünder, denen jede Revolution<lb/>
jeder Sturm der Natur anders nicht als <hi rendition="#fr">Zorn Gottes,<lb/>
Strafe</hi> und <hi rendition="#fr">Gericht Gottes</hi> vorkommen kann und<lb/>
&#x017F;oll &#x2014; Erfreulicher für die Verehrer Je&#x017F;u, die das al-<lb/>
les für anders nicht, als warnendes Gericht Gottes<lb/>
über die Verfolger Je&#x017F;u &#x2014; mithin als eine Un&#x017F;chulds-<lb/>
erklärung Je&#x017F;u von Seite Gottes an&#x017F;ehen konnten &#x2014;<lb/>
be&#x017F;onders, wenn &#x017F;ie wenige Tage nachher der Er&#x017F;chei-<lb/>
nung aufer&#x017F;tandener Heiligen gewürdigt wurden. Nicht<lb/>
um&#x017F;on&#x017F;t hatte Chri&#x017F;tus auf Gott vertraut &#x2014; der, wel-<lb/>
cher Ihn rechtfertigte, war nahe. Der tief&#x017F;tanbe-<lb/>
thenden, &#x017F;chweigend&#x017F;ten Geduld geht, möcht&#x2019; ich &#x017F;agen,<lb/>
die &#x017F;prechende Gottheit auf den Fuß nach. Nur aus-<lb/>
geharrt Dulder und Dulderinn! Kaum ha&#x017F;t du dein<lb/>
Auge ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en; Kaum deinen Gei&#x017F;t den Händen des<lb/>
Vaters empfohlen &#x2014; Kaum zum letztenmahl, und im<lb/>
Herabfahren in den Staub deine Kniee vor dem gebogen,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">L l</fw><fw place="bottom" type="catch">der</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[529[549]/0557] Erdbeben. Vorhang. zu erheben. Die Natur und die Kunſt zittern und de- müthigen ſich vor dem Tode deſſelben, der ihr beyder Herr iſt. Alles ſcheint über dem unerforſchlichen Ge- heimniß in einem ehrfurchtsvollen Erſtaunen zu ſchaudern. Erſt ſchien die Gottheit ihr Angeſicht zu verbergen, und ſich in einen Mantel des Mißfallens zu verhüllen — Nun zerreißt Sie gleichſam ihr Kleid, indem der dichte Vorhang des Tempels, der das Heilige von dem Aller- heiligſten ſönderte, von oben bis unten auf Einmahl wunderbarer Weiſe zerriſſen war. Kräftiger, geheim- nißvoller, vieldeutiger, erweckender fürs Nachdenken und die Empfindung konnte die Gottheit nicht ſprechen. Schreckenvoller für die Sünder, denen jede Revolution jeder Sturm der Natur anders nicht als Zorn Gottes, Strafe und Gericht Gottes vorkommen kann und ſoll — Erfreulicher für die Verehrer Jeſu, die das al- les für anders nicht, als warnendes Gericht Gottes über die Verfolger Jeſu — mithin als eine Unſchulds- erklärung Jeſu von Seite Gottes anſehen konnten — beſonders, wenn ſie wenige Tage nachher der Erſchei- nung auferſtandener Heiligen gewürdigt wurden. Nicht umſonſt hatte Chriſtus auf Gott vertraut — der, wel- cher Ihn rechtfertigte, war nahe. Der tiefſtanbe- thenden, ſchweigendſten Geduld geht, möcht’ ich ſagen, die ſprechende Gottheit auf den Fuß nach. Nur aus- geharrt Dulder und Dulderinn! Kaum haſt du dein Auge geſchloſſen; Kaum deinen Geiſt den Händen des Vaters empfohlen — Kaum zum letztenmahl, und im Herabfahren in den Staub deine Kniee vor dem gebogen, der L l

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/557
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 529[549]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/557>, abgerufen am 23.11.2024.