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Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.

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Neid.
-- die keiner gestehen will, wenn er alles andre ge-
stünde, was in seinem Herzen vorgieng -- Neid, eine sich
selbst aufzehrende, Freudenlose -- nur beym Sturz
und Falle des andern frohe Leidenschaft. Sie leidet,
wenn andere sich freuen; Sie freut sich, wenn andere
leiden. Sie hat ihre schändliche Leibwörter, an denen
sie leicht zu kennen ist, wie sehr sie sich zu verstecken, sich
immer Mühe geben mag. "So?" sagt sie mit verbis-
senem hämischen Lächeln -- wenn ein anderer gerühmet
oder hervorgezogen wird -- "wir wollen sehen -- Es
&q;wird sich wohl machen lassen! Wir wollen ihn schon
&q;kriegen -- Es soll ihm wohl gedeyhen -- -- und
&q;wenn er fällt oder fehlt: Grosse Leute also können
&q;auch fehlen! -- Es ist ihm nach Verdienen geschehen --
&q;Ich sahe dem Spiele schon lange zu -- Seine Anhän-
&q;ger mögen nun andre Sayten aufziehen -- Ich mögte
&q;sie doch nun wohl bey einander sehen --" u. s. f.

Neid -- richtet sich sehr selten wider schlechte, böse
Menschen -- Je besser, weiser, reiner, vorzüglicher
ein Mensch ist; Je mehr er gutes denkt, spricht, thut;
Je mehr er wirkt und Einfluß hat, desto sicherer
darf er auf den Geierblick des Neides, auf die bittersten
Verurtheilungen dieser Satansleidenschaft Rechnung
machen. Abel, Joseph -- David -- Christus! Ihr
grossen Opfer des Neides, des Bruderneides, wer Euere
grossen Gesinnungen sich zu eigen macht, wie kann der
vor den Pfeilen des Neides sicher seyn? -- Doch, laßt
sie euer Herz verwunden! Blutet, verblutet an diesen

ver-
O o 4

Neid.
— die keiner geſtehen will, wenn er alles andre ge-
ſtünde, was in ſeinem Herzen vorgieng — Neid, eine ſich
ſelbſt aufzehrende, Freudenloſe — nur beym Sturz
und Falle des andern frohe Leidenſchaft. Sie leidet,
wenn andere ſich freuen; Sie freut ſich, wenn andere
leiden. Sie hat ihre ſchändliche Leibwörter, an denen
ſie leicht zu kennen iſt, wie ſehr ſie ſich zu verſtecken, ſich
immer Mühe geben mag. „So?„ ſagt ſie mit verbiſ-
ſenem hämiſchen Lächeln — wenn ein anderer gerühmet
oder hervorgezogen wird — „wir wollen ſehen — Es
&q;wird ſich wohl machen laſſen! Wir wollen ihn ſchon
&q;kriegen — Es ſoll ihm wohl gedeyhen — — und
&q;wenn er fällt oder fehlt: Groſſe Leute alſo können
&q;auch fehlen! — Es iſt ihm nach Verdienen geſchehen —
&q;Ich ſahe dem Spiele ſchon lange zu — Seine Anhän-
&q;ger mögen nun andre Sayten aufziehen — Ich mögte
&q;ſie doch nun wohl bey einander ſehen —„ u. ſ. f.

Neid — richtet ſich ſehr ſelten wider ſchlechte, böſe
Menſchen — Je beſſer, weiſer, reiner, vorzüglicher
ein Menſch iſt; Je mehr er gutes denkt, ſpricht, thut;
Je mehr er wirkt und Einfluß hat, deſto ſicherer
darf er auf den Geierblick des Neides, auf die bitterſten
Verurtheilungen dieſer Satansleidenſchaft Rechnung
machen. Abel, Joſeph — David — Chriſtus! Ihr
groſſen Opfer des Neides, des Bruderneides, wer Euere
groſſen Geſinnungen ſich zu eigen macht, wie kann der
vor den Pfeilen des Neides ſicher ſeyn? — Doch, laßt
ſie euer Herz verwunden! Blutet, verblutet an dieſen

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O o 4
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[583[603]/0611] Neid. — die keiner geſtehen will, wenn er alles andre ge- ſtünde, was in ſeinem Herzen vorgieng — Neid, eine ſich ſelbſt aufzehrende, Freudenloſe — nur beym Sturz und Falle des andern frohe Leidenſchaft. Sie leidet, wenn andere ſich freuen; Sie freut ſich, wenn andere leiden. Sie hat ihre ſchändliche Leibwörter, an denen ſie leicht zu kennen iſt, wie ſehr ſie ſich zu verſtecken, ſich immer Mühe geben mag. „So?„ ſagt ſie mit verbiſ- ſenem hämiſchen Lächeln — wenn ein anderer gerühmet oder hervorgezogen wird — „wir wollen ſehen — Es &q;wird ſich wohl machen laſſen! Wir wollen ihn ſchon &q;kriegen — Es ſoll ihm wohl gedeyhen — — und &q;wenn er fällt oder fehlt: Groſſe Leute alſo können &q;auch fehlen! — Es iſt ihm nach Verdienen geſchehen — &q;Ich ſahe dem Spiele ſchon lange zu — Seine Anhän- &q;ger mögen nun andre Sayten aufziehen — Ich mögte &q;ſie doch nun wohl bey einander ſehen —„ u. ſ. f. Neid — richtet ſich ſehr ſelten wider ſchlechte, böſe Menſchen — Je beſſer, weiſer, reiner, vorzüglicher ein Menſch iſt; Je mehr er gutes denkt, ſpricht, thut; Je mehr er wirkt und Einfluß hat, deſto ſicherer darf er auf den Geierblick des Neides, auf die bitterſten Verurtheilungen dieſer Satansleidenſchaft Rechnung machen. Abel, Joſeph — David — Chriſtus! Ihr groſſen Opfer des Neides, des Bruderneides, wer Euere groſſen Geſinnungen ſich zu eigen macht, wie kann der vor den Pfeilen des Neides ſicher ſeyn? — Doch, laßt ſie euer Herz verwunden! Blutet, verblutet an dieſen ver- O o 4

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 583[603]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/611>, abgerufen am 23.11.2024.