Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.

Bild:
<< vorherige Seite
Joseph.
25.
Joseph.

Joseph von Arimathäa, ein ehrbarer Raths-Mark. XV.
43.

herr, welcher auch auf das Reich Gottes war-
tete, der waget's und ging hinein zu Pilatus und
bath um den Leichnahm Jesu.

Auf das Reich Gottes warten war ein Haupt-
zug in dem Charakter eines ächten Israeliten; So wie's
ein Hauptzug in dem Charakter des Christen ist -- die
Erscheinung des Meßias lieb haben.
Der scheint
mir für die wesentlichsten Bedürfnisse der Menschheit kei-
nen Sinn zu haben -- der kein Verlangen hat nach
einem sichtbaren, von allen anerkannten, alles regieren-
den -- alles in Ordnung setzenden Könige! Der scheint
mir weder Gott noch die Menschen recht zu kennen, der
nicht nach der Offenbahrung dieses Reiches, das alle
Unwahrheit und Ungerechtigkeit verdrängen soll, war-
tet, wie der Wächter auf den Morgen wartet -- Nur
solche Seelen dünkt es mich, die nach diesem grossen
Ziele hinstreben, sind großer Gesinnungen, großer, dem
gemeinen Menschen unmöglicher, Thaten fähig. Nur
diese wagen, was tausend andere nicht wagen dürfen
und können. Sie nehmen sich des Niedrigsten, verach-
testen, verworfensten an. Der Leichnam eines Ge-
hängten, das Scheusal aller Vorurtheile, kann ihnen
das ehrwürdigste Heiligthum, das kostbarste Gut wer-
den, daß sie an das heiligste Ort, das ihnen auf Er-
den anvertraut ist, verwahren. O wie verändert dieser

Hin-
O o 5
Joſeph.
25.
Joſeph.

Joſeph von Arimathäa, ein ehrbarer Raths-Mark. XV.
43.

herr, welcher auch auf das Reich Gottes war-
tete, der waget’s und ging hinein zu Pilatus und
bath um den Leichnahm Jeſu.

Auf das Reich Gottes warten war ein Haupt-
zug in dem Charakter eines ächten Iſraeliten; So wie’s
ein Hauptzug in dem Charakter des Chriſten iſt — die
Erſcheinung des Meßias lieb haben.
Der ſcheint
mir für die weſentlichſten Bedürfniſſe der Menſchheit kei-
nen Sinn zu haben — der kein Verlangen hat nach
einem ſichtbaren, von allen anerkannten, alles regieren-
den — alles in Ordnung ſetzenden Könige! Der ſcheint
mir weder Gott noch die Menſchen recht zu kennen, der
nicht nach der Offenbahrung dieſes Reiches, das alle
Unwahrheit und Ungerechtigkeit verdrängen ſoll, war-
tet, wie der Wächter auf den Morgen wartet — Nur
ſolche Seelen dünkt es mich, die nach dieſem groſſen
Ziele hinſtreben, ſind großer Geſinnungen, großer, dem
gemeinen Menſchen unmöglicher, Thaten fähig. Nur
dieſe wagen, was tauſend andere nicht wagen dürfen
und können. Sie nehmen ſich des Niedrigſten, verach-
teſten, verworfenſten an. Der Leichnam eines Ge-
hängten, das Scheuſal aller Vorurtheile, kann ihnen
das ehrwürdigſte Heiligthum, das koſtbarſte Gut wer-
den, daß ſie an das heiligſte Ort, das ihnen auf Er-
den anvertraut iſt, verwahren. O wie verändert dieſer

Hin-
O o 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0613" n="585[605]"/>
          <fw place="top" type="header">Jo&#x017F;eph.</fw><lb/>
          <div n="3">
            <head>25.<lb/>
Jo&#x017F;eph.</head><lb/>
            <p> <hi rendition="#fr">Jo&#x017F;eph von Arimathäa, ein ehrbarer Raths-</hi> <note place="right">Mark. <hi rendition="#aq">XV.</hi><lb/>
43.</note><lb/> <hi rendition="#fr">herr, welcher auch auf das Reich Gottes war-<lb/>
tete, der waget&#x2019;s und ging hinein zu Pilatus und<lb/>
bath um den Leichnahm Je&#x017F;u.</hi> </p><lb/>
            <p><hi rendition="#fr">Auf das Reich Gottes warten</hi> war ein Haupt-<lb/>
zug in dem Charakter eines ächten I&#x017F;raeliten; So wie&#x2019;s<lb/>
ein Hauptzug in dem Charakter des Chri&#x017F;ten i&#x017F;t &#x2014; <hi rendition="#fr">die<lb/>
Er&#x017F;cheinung des Meßias lieb haben.</hi> Der &#x017F;cheint<lb/>
mir für die we&#x017F;entlich&#x017F;ten Bedürfni&#x017F;&#x017F;e der Men&#x017F;chheit kei-<lb/>
nen Sinn zu haben &#x2014; der kein Verlangen hat nach<lb/>
einem &#x017F;ichtbaren, von allen anerkannten, alles regieren-<lb/>
den &#x2014; alles in Ordnung &#x017F;etzenden Könige! Der &#x017F;cheint<lb/>
mir weder Gott noch die Men&#x017F;chen recht zu kennen, der<lb/>
nicht nach der Offenbahrung die&#x017F;es Reiches, das alle<lb/>
Unwahrheit und Ungerechtigkeit verdrängen &#x017F;oll, war-<lb/>
tet, wie der Wächter auf den Morgen wartet &#x2014; Nur<lb/>
&#x017F;olche Seelen dünkt es mich, die nach die&#x017F;em gro&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Ziele hin&#x017F;treben, &#x017F;ind großer Ge&#x017F;innungen, großer, dem<lb/>
gemeinen Men&#x017F;chen unmöglicher, Thaten fähig. Nur<lb/>
die&#x017F;e wagen, was tau&#x017F;end andere nicht wagen dürfen<lb/>
und können. Sie nehmen &#x017F;ich des Niedrig&#x017F;ten, verach-<lb/>
te&#x017F;ten, verworfen&#x017F;ten an. Der Leichnam eines Ge-<lb/>
hängten, das Scheu&#x017F;al aller Vorurtheile, kann ihnen<lb/>
das ehrwürdig&#x017F;te Heiligthum, das ko&#x017F;tbar&#x017F;te Gut wer-<lb/>
den, daß &#x017F;ie an das heilig&#x017F;te Ort, das ihnen auf Er-<lb/>
den anvertraut i&#x017F;t, verwahren. O wie verändert die&#x017F;er<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">O o 5</fw><fw place="bottom" type="catch">Hin-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[585[605]/0613] Joſeph. 25. Joſeph. Joſeph von Arimathäa, ein ehrbarer Raths- herr, welcher auch auf das Reich Gottes war- tete, der waget’s und ging hinein zu Pilatus und bath um den Leichnahm Jeſu. Mark. XV. 43. Auf das Reich Gottes warten war ein Haupt- zug in dem Charakter eines ächten Iſraeliten; So wie’s ein Hauptzug in dem Charakter des Chriſten iſt — die Erſcheinung des Meßias lieb haben. Der ſcheint mir für die weſentlichſten Bedürfniſſe der Menſchheit kei- nen Sinn zu haben — der kein Verlangen hat nach einem ſichtbaren, von allen anerkannten, alles regieren- den — alles in Ordnung ſetzenden Könige! Der ſcheint mir weder Gott noch die Menſchen recht zu kennen, der nicht nach der Offenbahrung dieſes Reiches, das alle Unwahrheit und Ungerechtigkeit verdrängen ſoll, war- tet, wie der Wächter auf den Morgen wartet — Nur ſolche Seelen dünkt es mich, die nach dieſem groſſen Ziele hinſtreben, ſind großer Geſinnungen, großer, dem gemeinen Menſchen unmöglicher, Thaten fähig. Nur dieſe wagen, was tauſend andere nicht wagen dürfen und können. Sie nehmen ſich des Niedrigſten, verach- teſten, verworfenſten an. Der Leichnam eines Ge- hängten, das Scheuſal aller Vorurtheile, kann ihnen das ehrwürdigſte Heiligthum, das koſtbarſte Gut wer- den, daß ſie an das heiligſte Ort, das ihnen auf Er- den anvertraut iſt, verwahren. O wie verändert dieſer Hin- O o 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/613
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 585[605]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/613>, abgerufen am 23.11.2024.