Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.IX. Fragment. 2. Zugabe. Von der Harmonie Jtalieners hätte. Sein todter Christus, dieß Meisterstück von Zeichnung und Natur, hat kei-nen Zug von Raphaels hohem Sinne. Auch der Christus in demselben Nachtmalstücke, den ich auch beyfüge, um die Wahrheit meiner Behauptungen sichtbarer zu machen, ist, bey aller Simplicität und Würde, dennoch unter allen Jdealen des unvergleichbaren Genies. Aber den- noch zum Erstaunen weit, unbegreiflich weit, bracht's das sich selbst überlassene Genie des Schweizers, das vielleicht Grundkraft genug gehabt hätte, jenem nachzufliegen, wenn's ihm vergönnt worden wäre, durch's Anschaun erhabener Werke, sich Nahrung und Freyheit genug zu verschaffen. Viele physiognomische Einsicht leuchtet gewiß aus allen seinen Werken heraus. Es ist nicht nur Physiognomie in seinen Gesichtern, sondern Geist der Physiognomie. Nicht nur einzele Züge sind weislich bestimmt und glücklich zusammengesetzt: Es ist im Ganzen seiner Gesichter ein sanfter, lebendiger, uns entgegenkommender Geist, der tiefes inneres Gefühl ver- räth. Seine Erasmus alle, die er auf mancherley Weise mahlte, seine Pelikans, Ho- wards, Morus u. s. f. haben durchaus dieß unerreichbare, unbeschreiblich geistige, was so vielen tausend glänzenden Portraiten der berühmtesten Mahler fehlt. -- Jch glaube nicht, we- nigstens läßt mich's seine, in allen seinen Bildnissen, mehr kraftvolle und gewaltsame, als er- habene Physiognomie -- nicht glauben, daß er jemals, selbst, wenn er Raphaels Schüler ge- wesen wäre, seinen hohen Ausdruck erreicht haben würde; aber Wahrheit ergriff er mit gewal- tiger Hand, und wirkte sie reichlich in seine Gesichter, und seine Stellungen. Von beyden diesen Bemerkungen sey der nachstehende Judas ein Beyspiel. Es ist erstaunlich viel Wahr- heit darinn, aber keine Erhabenheit. Die wahre Physiognomie eines Geizigen; aber nicht ei- nes geizigen Apostels; eines Niederträchtigen -- aber nicht einer großen Seele, die von einer Leidenschaft mächtig ergriffen -- zwar ein Satan wird, aber immer noch große Seele bleibt. Man lache nicht zu früh über diese seltsamen Zusammensetzungen. Sie sind nicht aus Wenn Judas so ausgesehen hätte, wie Holbein ihn zeichnet, so hätte Christus ihn vieles
IX. Fragment. 2. Zugabe. Von der Harmonie Jtalieners haͤtte. Sein todter Chriſtus, dieß Meiſterſtuͤck von Zeichnung und Natur, hat kei-nen Zug von Raphaels hohem Sinne. Auch der Chriſtus in demſelben Nachtmalſtuͤcke, den ich auch beyfuͤge, um die Wahrheit meiner Behauptungen ſichtbarer zu machen, iſt, bey aller Simplicitaͤt und Wuͤrde, dennoch unter allen Jdealen des unvergleichbaren Genies. Aber den- noch zum Erſtaunen weit, unbegreiflich weit, bracht's das ſich ſelbſt uͤberlaſſene Genie des Schweizers, das vielleicht Grundkraft genug gehabt haͤtte, jenem nachzufliegen, wenn's ihm vergoͤnnt worden waͤre, durch's Anſchaun erhabener Werke, ſich Nahrung und Freyheit genug zu verſchaffen. Viele phyſiognomiſche Einſicht leuchtet gewiß aus allen ſeinen Werken heraus. Es iſt nicht nur Phyſiognomie in ſeinen Geſichtern, ſondern Geiſt der Phyſiognomie. Nicht nur einzele Zuͤge ſind weislich beſtimmt und gluͤcklich zuſammengeſetzt: Es iſt im Ganzen ſeiner Geſichter ein ſanfter, lebendiger, uns entgegenkommender Geiſt, der tiefes inneres Gefuͤhl ver- raͤth. Seine Erasmus alle, die er auf mancherley Weiſe mahlte, ſeine Pelikans, Ho- wards, Morus u. ſ. f. haben durchaus dieß unerreichbare, unbeſchreiblich geiſtige, was ſo vielen tauſend glaͤnzenden Portraiten der beruͤhmteſten Mahler fehlt. — Jch glaube nicht, we- nigſtens laͤßt mich's ſeine, in allen ſeinen Bildniſſen, mehr kraftvolle und gewaltſame, als er- habene Phyſiognomie — nicht glauben, daß er jemals, ſelbſt, wenn er Raphaels Schuͤler ge- weſen waͤre, ſeinen hohen Ausdruck erreicht haben wuͤrde; aber Wahrheit ergriff er mit gewal- tiger Hand, und wirkte ſie reichlich in ſeine Geſichter, und ſeine Stellungen. Von beyden dieſen Bemerkungen ſey der nachſtehende Judas ein Beyſpiel. Es iſt erſtaunlich viel Wahr- heit darinn, aber keine Erhabenheit. Die wahre Phyſiognomie eines Geizigen; aber nicht ei- nes geizigen Apoſtels; eines Niedertraͤchtigen — aber nicht einer großen Seele, die von einer Leidenſchaft maͤchtig ergriffen — zwar ein Satan wird, aber immer noch große Seele bleibt. Man lache nicht zu fruͤh uͤber dieſe ſeltſamen Zuſammenſetzungen. Sie ſind nicht aus Wenn Judas ſo ausgeſehen haͤtte, wie Holbein ihn zeichnet, ſo haͤtte Chriſtus ihn vieles
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IX. Fragment. 2. Zugabe. Von der Harmonie
Jtalieners haͤtte. Sein todter Chriſtus, dieß Meiſterſtuͤck von Zeichnung und Natur, hat kei-
nen Zug von Raphaels hohem Sinne. Auch der Chriſtus in demſelben Nachtmalſtuͤcke, den
ich auch beyfuͤge, um die Wahrheit meiner Behauptungen ſichtbarer zu machen, iſt, bey aller
Simplicitaͤt und Wuͤrde, dennoch unter allen Jdealen des unvergleichbaren Genies. Aber den-
noch zum Erſtaunen weit, unbegreiflich weit, bracht's das ſich ſelbſt uͤberlaſſene Genie des
Schweizers, das vielleicht Grundkraft genug gehabt haͤtte, jenem nachzufliegen, wenn's ihm
vergoͤnnt worden waͤre, durch's Anſchaun erhabener Werke, ſich Nahrung und Freyheit genug
zu verſchaffen. Viele phyſiognomiſche Einſicht leuchtet gewiß aus allen ſeinen Werken heraus.
Es iſt nicht nur Phyſiognomie in ſeinen Geſichtern, ſondern Geiſt der Phyſiognomie. Nicht
nur einzele Zuͤge ſind weislich beſtimmt und gluͤcklich zuſammengeſetzt: Es iſt im Ganzen ſeiner
Geſichter ein ſanfter, lebendiger, uns entgegenkommender Geiſt, der tiefes inneres Gefuͤhl ver-
raͤth. Seine Erasmus alle, die er auf mancherley Weiſe mahlte, ſeine Pelikans, Ho-
wards, Morus u. ſ. f. haben durchaus dieß unerreichbare, unbeſchreiblich geiſtige, was ſo
vielen tauſend glaͤnzenden Portraiten der beruͤhmteſten Mahler fehlt. — Jch glaube nicht, we-
nigſtens laͤßt mich's ſeine, in allen ſeinen Bildniſſen, mehr kraftvolle und gewaltſame, als er-
habene Phyſiognomie — nicht glauben, daß er jemals, ſelbſt, wenn er Raphaels Schuͤler ge-
weſen waͤre, ſeinen hohen Ausdruck erreicht haben wuͤrde; aber Wahrheit ergriff er mit gewal-
tiger Hand, und wirkte ſie reichlich in ſeine Geſichter, und ſeine Stellungen. Von beyden
dieſen Bemerkungen ſey der nachſtehende Judas ein Beyſpiel. Es iſt erſtaunlich viel Wahr-
heit darinn, aber keine Erhabenheit. Die wahre Phyſiognomie eines Geizigen; aber nicht ei-
nes geizigen Apoſtels; eines Niedertraͤchtigen — aber nicht einer großen Seele, die von einer
Leidenſchaft maͤchtig ergriffen — zwar ein Satan wird, aber immer noch große Seele bleibt.
Man lache nicht zu fruͤh uͤber dieſe ſeltſamen Zuſammenſetzungen. Sie ſind nicht aus
der Luft herabgegriffen. Judas iſt der niedertraͤchtigſte und dennoch ein großer Mann, auch
in ſeinen Unthaten ſcheint noch der Apoſtel durch.
Wenn Judas ſo ausgeſehen haͤtte, wie Holbein ihn zeichnet, ſo haͤtte Chriſtus ihn
gewiß nicht zum Apoſtel gewaͤhlt. — So ein Geſicht kann's keine Woche in Chriſtus Geſell-
ſchaft aushalten. Jſts gleich das niedertraͤchtigſte, das ſich gedenken laͤßt; fehlt gleich noch ſehr
vieles
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