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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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IX. Fragment. 5. Zugabe. Von der Harmonie
Fünfte Zugabe.
Demokrit nach Rubens.

Wir haben hier nicht den weisen Demokrit vor uns, den uns Bayle und Wieland zeich-
nen; nicht den Mann, von dem uns der letztere versichert -- "Demokritus hätte sich unter
"andern auch mit der Physiognomie abgegeben, und theils aus seinen eigenen Beobachtun-
"gen, theils aus dem, was ihm andere von den ihrigen mitgetheilt, sich eine Theorie davon
"gemacht, von deren Gebrauch er (sehr vernünftig, wie uns deucht) urtheilte, daß es damit
"eben so, wie mit der Theorie der poetischen Kunst beschaffen sey. Denn so wie noch keiner
"durch die bloße Wissenschaft der Regeln ein guter Dichter geworden sey,*) und nur derjenige,
"welchen Natur, Begeisterung und lange Uebung dazu gemacht habe, geschickt sey, solche
"recht zu verstehen und anzuwenden; so sey auch die Theorie der Kunst aus dem Aeußerlichen
"des Menschen auf das Jnnerliche zu schließen, nur für Leute von großer Fertigkeit im Be-
"obachten und Unterscheiden brauchbar, für jeden andern hingegen eine höchstungewisse und
"betrügliche Wissenschaft, und eben darum müsse sie als eine von den geheimen Wissenschaf-
"ten
oder großen Mysterien der Philosophie immer nur der kleinen Zahl der ächten Epopten
"vorbehalten bleiben." **)

Nicht diesen weisen Mann, (dessen Jdeen wir gewiß folgen, obgleich wir physiogno-
mische Fragmente schreiben --) sehen wir hier vor uns -- Nicht einen schönen Genius, einen
reichen durchdringenden Geist, der zu allem fähig wäre, ein Erfinder alles Unerfundenen, ein
Vervollkommener alles Erfundenen! Nicht den Mann, der sich die Augen aussticht oder aus-
brennt, um das Gemüth von allen Zerstreuungen abzuziehen und den abgezogensten Betrach-
tungen obzuliegen! Nicht den Feind aller Wollust und aller fleischlichen Vermischung! ***)

Nicht
*) So wenig, als einer durch die beste Sittenlehre
zu einem Tugendhelden geworden -- und doch, denk'
ich, ists nicht ganz vergeblich, Sittenlehren zu schrei-
ben -- welche Wissenschaft in der Welt hat nicht
ihre Mysterien? hat's die Moral nicht so gut, als
die Physiognomik?
**) Wielands Merkur. V. B. 11. St.
***) Venerem damnavit Democritus, vt in qua
homo alius exsiliret ex homine. Plinius Lib.
XXVIII.
IX. Fragment. 5. Zugabe. Von der Harmonie
Fuͤnfte Zugabe.
Demokrit nach Rubens.

Wir haben hier nicht den weiſen Demokrit vor uns, den uns Bayle und Wieland zeich-
nen; nicht den Mann, von dem uns der letztere verſichert — „Demokritus haͤtte ſich unter
„andern auch mit der Phyſiognomie abgegeben, und theils aus ſeinen eigenen Beobachtun-
„gen, theils aus dem, was ihm andere von den ihrigen mitgetheilt, ſich eine Theorie davon
„gemacht, von deren Gebrauch er (ſehr vernuͤnftig, wie uns deucht) urtheilte, daß es damit
„eben ſo, wie mit der Theorie der poetiſchen Kunſt beſchaffen ſey. Denn ſo wie noch keiner
„durch die bloße Wiſſenſchaft der Regeln ein guter Dichter geworden ſey,*) und nur derjenige,
„welchen Natur, Begeiſterung und lange Uebung dazu gemacht habe, geſchickt ſey, ſolche
„recht zu verſtehen und anzuwenden; ſo ſey auch die Theorie der Kunſt aus dem Aeußerlichen
„des Menſchen auf das Jnnerliche zu ſchließen, nur fuͤr Leute von großer Fertigkeit im Be-
„obachten und Unterſcheiden brauchbar, fuͤr jeden andern hingegen eine hoͤchſtungewiſſe und
„betruͤgliche Wiſſenſchaft, und eben darum muͤſſe ſie als eine von den geheimen Wiſſenſchaf-
„ten
oder großen Myſterien der Philoſophie immer nur der kleinen Zahl der aͤchten Epopten
„vorbehalten bleiben.“ **)

Nicht dieſen weiſen Mann, (deſſen Jdeen wir gewiß folgen, obgleich wir phyſiogno-
miſche Fragmente ſchreiben —) ſehen wir hier vor uns — Nicht einen ſchoͤnen Genius, einen
reichen durchdringenden Geiſt, der zu allem faͤhig waͤre, ein Erfinder alles Unerfundenen, ein
Vervollkommener alles Erfundenen! Nicht den Mann, der ſich die Augen ausſticht oder aus-
brennt, um das Gemuͤth von allen Zerſtreuungen abzuziehen und den abgezogenſten Betrach-
tungen obzuliegen! Nicht den Feind aller Wolluſt und aller fleiſchlichen Vermiſchung! ***)

Nicht
*) So wenig, als einer durch die beſte Sittenlehre
zu einem Tugendhelden geworden — und doch, denk'
ich, iſts nicht ganz vergeblich, Sittenlehren zu ſchrei-
ben — welche Wiſſenſchaft in der Welt hat nicht
ihre Myſterien? hat's die Moral nicht ſo gut, als
die Phyſiognomik?
**) Wielands Merkur. V. B. 11. St.
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XXVIII.
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[92/0126] IX. Fragment. 5. Zugabe. Von der Harmonie Fuͤnfte Zugabe. Demokrit nach Rubens. Wir haben hier nicht den weiſen Demokrit vor uns, den uns Bayle und Wieland zeich- nen; nicht den Mann, von dem uns der letztere verſichert — „Demokritus haͤtte ſich unter „andern auch mit der Phyſiognomie abgegeben, und theils aus ſeinen eigenen Beobachtun- „gen, theils aus dem, was ihm andere von den ihrigen mitgetheilt, ſich eine Theorie davon „gemacht, von deren Gebrauch er (ſehr vernuͤnftig, wie uns deucht) urtheilte, daß es damit „eben ſo, wie mit der Theorie der poetiſchen Kunſt beſchaffen ſey. Denn ſo wie noch keiner „durch die bloße Wiſſenſchaft der Regeln ein guter Dichter geworden ſey, *) und nur derjenige, „welchen Natur, Begeiſterung und lange Uebung dazu gemacht habe, geſchickt ſey, ſolche „recht zu verſtehen und anzuwenden; ſo ſey auch die Theorie der Kunſt aus dem Aeußerlichen „des Menſchen auf das Jnnerliche zu ſchließen, nur fuͤr Leute von großer Fertigkeit im Be- „obachten und Unterſcheiden brauchbar, fuͤr jeden andern hingegen eine hoͤchſtungewiſſe und „betruͤgliche Wiſſenſchaft, und eben darum muͤſſe ſie als eine von den geheimen Wiſſenſchaf- „ten oder großen Myſterien der Philoſophie immer nur der kleinen Zahl der aͤchten Epopten „vorbehalten bleiben.“ **) Nicht dieſen weiſen Mann, (deſſen Jdeen wir gewiß folgen, obgleich wir phyſiogno- miſche Fragmente ſchreiben —) ſehen wir hier vor uns — Nicht einen ſchoͤnen Genius, einen reichen durchdringenden Geiſt, der zu allem faͤhig waͤre, ein Erfinder alles Unerfundenen, ein Vervollkommener alles Erfundenen! Nicht den Mann, der ſich die Augen ausſticht oder aus- brennt, um das Gemuͤth von allen Zerſtreuungen abzuziehen und den abgezogenſten Betrach- tungen obzuliegen! Nicht den Feind aller Wolluſt und aller fleiſchlichen Vermiſchung! ***) Nicht *) So wenig, als einer durch die beſte Sittenlehre zu einem Tugendhelden geworden — und doch, denk' ich, iſts nicht ganz vergeblich, Sittenlehren zu ſchrei- ben — welche Wiſſenſchaft in der Welt hat nicht ihre Myſterien? hat's die Moral nicht ſo gut, als die Phyſiognomik? **) Wielands Merkur. V. B. 11. St. ***) Venerem damnavit Democritus, vt in qua homo alius exſiliret ex homine. Plinius Lib. XXVIII.

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/126>, abgerufen am 24.11.2024.