Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.der moralischen und körperlichen Schönheit. "ob er mit Stille der Seele oder wallend und mit Zorn rede auch an dem Gesichte; der Denkende"zeiget, wie stark er denke; in allen Leidenschaften, so starke Bedeutungen haben, siehet man, ob es "der Anfang, Mittel oder Ende der Regung sey: Es wäre allein ein Buch von der Bedeutung "Raphaels zu schreiben."*) Wir werden noch oft Gelegenheit haben, das Urtheil zu bestätigen. -- Das Stück, das wir vor uns haben, muß in der Copey schrecklich verloren haben; das Die Schönheit eines großen Characters hat vier verschiedene, aber wohlzusammenstim- sichter *) Mengs Gedanken über die Schönheit und über den Geschmack in der Mahlerey. S. 62. 63. Q 2
der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit. „ob er mit Stille der Seele oder wallend und mit Zorn rede auch an dem Geſichte; der Denkende„zeiget, wie ſtark er denke; in allen Leidenſchaften, ſo ſtarke Bedeutungen haben, ſiehet man, ob es „der Anfang, Mittel oder Ende der Regung ſey: Es waͤre allein ein Buch von der Bedeutung „Raphaels zu ſchreiben.“*) Wir werden noch oft Gelegenheit haben, das Urtheil zu beſtaͤtigen. — Das Stuͤck, das wir vor uns haben, muß in der Copey ſchrecklich verloren haben; das Die Schoͤnheit eines großen Characters hat vier verſchiedene, aber wohlzuſammenſtim- ſichter *) Mengs Gedanken uͤber die Schoͤnheit und uͤber den Geſchmack in der Mahlerey. S. 62. 63. Q 2
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der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
„ob er mit Stille der Seele oder wallend und mit Zorn rede auch an dem Geſichte; der Denkende
„zeiget, wie ſtark er denke; in allen Leidenſchaften, ſo ſtarke Bedeutungen haben, ſiehet man, ob es
„der Anfang, Mittel oder Ende der Regung ſey: Es waͤre allein ein Buch von der Bedeutung
„Raphaels zu ſchreiben.“ *) Wir werden noch oft Gelegenheit haben, das Urtheil zu beſtaͤtigen. —
Das Stuͤck, das wir vor uns haben, muß in der Copey ſchrecklich verloren haben; das
heißt mit andern Worten: die Character unſrer Perſonen erſcheinen uns um ſo viel ſchlechter, un-
edler, niedriger, als die Umriſſe groͤber, roher und tiefer unter der vermuthlichen unerreichbaren
Simplicitaͤt des Originals ſind. Unſre Copey iſt nur von einer Copey, die ſehr wahrſcheinlich auch
nur wieder Copey iſt; und obgleich auch unſer Original uͤberhaupt zaͤrter iſt, als unſre Copey, ſo
hat es dennoch viel zu viel Unbeſtimmtes, Rohes, Zweyfaches, Unfeſtes, — mithin mit dem Cha-
racter Raphaeliſcher Zeichnungen hoͤchſt contraſtirendes, als daß man aus dieſer auf jene vollkom-
men ſicher ſchließen koͤnnte. Bey allem dem zeigt ſie uns noch genug großen Geiſt, und erhabene
Wahrheit. Ein Stuͤck, das fuͤr das erhabenſte Genie nicht erhabener ſeyn koͤnnte, iſt Tho-
mas und Chriſtus — beym erſten Wiederſehn nach der Auferſtehung! So manche Apoſtel —
alle erhaben, und alle auf verſchiedene Weiſe! Jeder ein großer Character! und dennoch je-
der vom andern ſo verſchieden wie Aug und Ohr! alle erhaben — und alle niedrig in der Ge-
genwart des Erhabenſten! — Welch ein unſchaͤtzbares Stuͤck waͤre ein Gemaͤlde von dieſer Sce-
ne! — dann wuͤrde freylich das Gegenwaͤrtige bey allen ſeinen Vorzuͤgen — verſchwinden.
Die Schoͤnheit eines großen Characters hat vier verſchiedene, aber wohlzuſammenſtim-
mende Expreßionen — Die ganze Geſtalt, den Umriß des Geſichtes, die Miene, die
Stellung — das Laſter wird durch alle dieſe Ausdruͤcke verlieren, durch alle dieſe Ausdruͤ-
cke die Tugend gewinnen, und gerade in dieſen vier Expreßionen und, was das Wichtigſte iſt,
in der Zuſammenſtimmung, Harmonie, Homogeneitaͤt dieſer verſchiedenen Ausdruͤcke — iſt
Raphael ein großer Meiſter. Betracht einmal die ganzen Geſtalten in unſerm Stuͤcke! wie
edel! laͤnglicht ohne Johann v. Leukens Hagerkeit; maͤnnlich ohne Glozens Gewaltſamkeit
und Ueberſpanntheit, oder Berninis Rauhigkeit — welche Proportion ohne Aengſtlichkeit!
welche Leichtigkeit ohne Unbeſtimmtheit! Welche Zaͤrte ohne Weichlichkeit! — und ſeiner Ge-
ſichter
*) Mengs Gedanken uͤber die Schoͤnheit und uͤber den Geſchmack in der Mahlerey. S. 62. 63.
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