Siebzehnte Zugabe. Ein Kopf nach Raphael. XVIII.Tafel.
O! du edler Schöpfer edler Gestalten, wie oft hast du schon mein Aug erquickt, und mein Herz erweitert und erhoben! -- Du einziger unter Tausenden, dessen unsterbliche Werke meine Seele umfassen, als wenn ein unsichtbarer himmlischer Geist sich mir näherte, oder in die Ath- mosphäre meines Körpers träte! -- Wie lange kann mein Blick auf deinen Schöpfungen ru- hen -- und wie oft wird er zurückkehren, um neue Höhen und Tiefen in dir zu entdecken! o du einziger! - - - -
"Aber, wozu diese Schwärmerey? Wir erwarten wissenschaftliche Belehrungen; kalte "Beobachtungen -- nicht Deklamationen und Beredsamkeit" -- hör ich Leser mir entgegen rufen; Leser, für die ich nicht geschrieben habe -- doch -- hört ein paar Worte --
O wer sagt euch, daß ich deswegen, weil ich behaupte, daß Physiognomik Wissenschaft werden könne, ein wissenschaftliches System liefern wolle?
Laß mich, lieber Leser! reden, wie ich reden kann; das heißt: laß mich meine Seele, meine Gefühle darlegen, wie jeder wahre Künstler, dessen Kunst Menschheit war -- seinen Geist seinem Werk einschuf, -- ohne sich um des Zuschauers hin- und herwallenden Geschmack zu bekümmern! darlegen, wie der erhabne Raphael seine Götter und Helden -- O des er- bärmlichen Geschreibs, das nur der Leser, das Publikum, -- der Recensent -- dem Verfasser gleichsam anlarvte -- das nicht aus seiner Seele floß, wie Licht aus der Sonne, -- das über Gute und Böse, Sehende und Blinde, Fühlende und Gefühllose sich ausgießt, .... und es sicherlich nicht achtet, und sich gleichfort ergießt, ob einige Blödäugige sich beklagen -- oder Lasterhafte über das Säumen der Nacht zürnen. Geh aus der Sonn an den Schatten, eil in die Winkel -- wenn dir das Licht und die Wärme der Sonne unerträglich ist .... Wer umarmt nicht zuerst den überraschenden Freund, ehe er ihn von oben bis unten besichtiget -- und sich hinsetzt, ihn abzuzeichnen?
O Leser!
IX.Fragment. 17. Zugabe. Von der Harmonie
Siebzehnte Zugabe. Ein Kopf nach Raphael. XVIII.Tafel.
O! du edler Schoͤpfer edler Geſtalten, wie oft haſt du ſchon mein Aug erquickt, und mein Herz erweitert und erhoben! — Du einziger unter Tauſenden, deſſen unſterbliche Werke meine Seele umfaſſen, als wenn ein unſichtbarer himmliſcher Geiſt ſich mir naͤherte, oder in die Ath- mosphaͤre meines Koͤrpers traͤte! — Wie lange kann mein Blick auf deinen Schoͤpfungen ru- hen — und wie oft wird er zuruͤckkehren, um neue Hoͤhen und Tiefen in dir zu entdecken! o du einziger! ‒ ‒ ‒ ‒
„Aber, wozu dieſe Schwaͤrmerey? Wir erwarten wiſſenſchaftliche Belehrungen; kalte „Beobachtungen — nicht Deklamationen und Beredſamkeit“ — hoͤr ich Leſer mir entgegen rufen; Leſer, fuͤr die ich nicht geſchrieben habe — doch — hoͤrt ein paar Worte —
O wer ſagt euch, daß ich deswegen, weil ich behaupte, daß Phyſiognomik Wiſſenſchaft werden koͤnne, ein wiſſenſchaftliches Syſtem liefern wolle?
Laß mich, lieber Leſer! reden, wie ich reden kann; das heißt: laß mich meine Seele, meine Gefuͤhle darlegen, wie jeder wahre Kuͤnſtler, deſſen Kunſt Menſchheit war — ſeinen Geiſt ſeinem Werk einſchuf, — ohne ſich um des Zuſchauers hin- und herwallenden Geſchmack zu bekuͤmmern! darlegen, wie der erhabne Raphael ſeine Goͤtter und Helden — O des er- baͤrmlichen Geſchreibs, das nur der Leſer, das Publikum, — der Recenſent — dem Verfaſſer gleichſam anlarvte — das nicht aus ſeiner Seele floß, wie Licht aus der Sonne, — das uͤber Gute und Boͤſe, Sehende und Blinde, Fuͤhlende und Gefuͤhlloſe ſich ausgießt, .... und es ſicherlich nicht achtet, und ſich gleichfort ergießt, ob einige Bloͤdaͤugige ſich beklagen — oder Laſterhafte uͤber das Saͤumen der Nacht zuͤrnen. Geh aus der Sonn an den Schatten, eil in die Winkel — wenn dir das Licht und die Waͤrme der Sonne unertraͤglich iſt .... Wer umarmt nicht zuerſt den uͤberraſchenden Freund, ehe er ihn von oben bis unten beſichtiget — und ſich hinſetzt, ihn abzuzeichnen?
O Leſer!
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0178"n="120"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">IX.</hi><hirendition="#g">Fragment. 17. Zugabe. Von der Harmonie</hi></hi></fw><lb/><divn="3"><head><hirendition="#b">Siebzehnte Zugabe.<lb/><hirendition="#g">Ein Kopf nach Raphael.</hi></hi><lb/><hirendition="#aq">XVIII.</hi><hirendition="#fr"><hirendition="#g">Tafel.</hi></hi></head><lb/><p><hirendition="#in">O</hi>! du edler Schoͤpfer edler Geſtalten, wie oft haſt du ſchon mein Aug erquickt, und mein<lb/>
Herz erweitert und erhoben! — Du einziger unter Tauſenden, deſſen unſterbliche Werke meine<lb/>
Seele umfaſſen, als wenn ein unſichtbarer himmliſcher Geiſt ſich mir naͤherte, oder in die Ath-<lb/>
mosphaͤre meines Koͤrpers traͤte! — Wie lange kann mein Blick auf deinen Schoͤpfungen ru-<lb/>
hen — und wie oft wird er zuruͤckkehren, um neue Hoͤhen und Tiefen in dir zu entdecken!<lb/>
o du einziger! ‒‒‒‒</p><lb/><p>„Aber, wozu dieſe Schwaͤrmerey? Wir erwarten wiſſenſchaftliche Belehrungen; kalte<lb/>„Beobachtungen — nicht Deklamationen und Beredſamkeit“— hoͤr ich Leſer mir entgegen<lb/>
rufen; Leſer, fuͤr die ich nicht geſchrieben habe — doch — hoͤrt ein paar Worte —</p><lb/><p>O wer ſagt euch, daß ich deswegen, weil ich behaupte, daß Phyſiognomik Wiſſenſchaft<lb/>
werden koͤnne, ein wiſſenſchaftliches Syſtem liefern wolle?</p><lb/><p>Laß mich, lieber Leſer! reden, wie ich reden kann; das heißt: laß mich <hirendition="#fr">meine</hi> Seele,<lb/><hirendition="#fr">meine</hi> Gefuͤhle darlegen, wie jeder wahre Kuͤnſtler, deſſen Kunſt Menſchheit war —ſeinen<lb/>
Geiſt ſeinem Werk einſchuf, — ohne ſich um des Zuſchauers hin- und herwallenden Geſchmack<lb/>
zu bekuͤmmern! darlegen, wie der erhabne <hirendition="#fr">Raphael</hi>ſeine Goͤtter und Helden — O des er-<lb/>
baͤrmlichen Geſchreibs, das nur der Leſer, das Publikum, — der Recenſent — dem Verfaſſer<lb/>
gleichſam anlarvte — das nicht aus ſeiner Seele floß, wie Licht aus der Sonne, — das uͤber<lb/>
Gute und Boͤſe, Sehende und Blinde, Fuͤhlende und Gefuͤhlloſe ſich ausgießt, .... und<lb/>
es ſicherlich nicht achtet, und ſich gleichfort ergießt, ob einige Bloͤdaͤugige ſich beklagen — oder<lb/>
Laſterhafte uͤber das Saͤumen der Nacht zuͤrnen. Geh aus der Sonn an den Schatten, eil in<lb/>
die Winkel — wenn dir das Licht und die Waͤrme der Sonne unertraͤglich iſt .... Wer<lb/>
umarmt nicht zuerſt den uͤberraſchenden Freund, ehe er ihn von oben bis unten beſichtiget —<lb/>
und ſich hinſetzt, ihn abzuzeichnen?</p><lb/><fwplace="bottom"type="catch">O Leſer!</fw><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[120/0178]
IX. Fragment. 17. Zugabe. Von der Harmonie
Siebzehnte Zugabe.
Ein Kopf nach Raphael.
XVIII. Tafel.
O! du edler Schoͤpfer edler Geſtalten, wie oft haſt du ſchon mein Aug erquickt, und mein
Herz erweitert und erhoben! — Du einziger unter Tauſenden, deſſen unſterbliche Werke meine
Seele umfaſſen, als wenn ein unſichtbarer himmliſcher Geiſt ſich mir naͤherte, oder in die Ath-
mosphaͤre meines Koͤrpers traͤte! — Wie lange kann mein Blick auf deinen Schoͤpfungen ru-
hen — und wie oft wird er zuruͤckkehren, um neue Hoͤhen und Tiefen in dir zu entdecken!
o du einziger! ‒ ‒ ‒ ‒
„Aber, wozu dieſe Schwaͤrmerey? Wir erwarten wiſſenſchaftliche Belehrungen; kalte
„Beobachtungen — nicht Deklamationen und Beredſamkeit“ — hoͤr ich Leſer mir entgegen
rufen; Leſer, fuͤr die ich nicht geſchrieben habe — doch — hoͤrt ein paar Worte —
O wer ſagt euch, daß ich deswegen, weil ich behaupte, daß Phyſiognomik Wiſſenſchaft
werden koͤnne, ein wiſſenſchaftliches Syſtem liefern wolle?
Laß mich, lieber Leſer! reden, wie ich reden kann; das heißt: laß mich meine Seele,
meine Gefuͤhle darlegen, wie jeder wahre Kuͤnſtler, deſſen Kunſt Menſchheit war — ſeinen
Geiſt ſeinem Werk einſchuf, — ohne ſich um des Zuſchauers hin- und herwallenden Geſchmack
zu bekuͤmmern! darlegen, wie der erhabne Raphael ſeine Goͤtter und Helden — O des er-
baͤrmlichen Geſchreibs, das nur der Leſer, das Publikum, — der Recenſent — dem Verfaſſer
gleichſam anlarvte — das nicht aus ſeiner Seele floß, wie Licht aus der Sonne, — das uͤber
Gute und Boͤſe, Sehende und Blinde, Fuͤhlende und Gefuͤhlloſe ſich ausgießt, .... und
es ſicherlich nicht achtet, und ſich gleichfort ergießt, ob einige Bloͤdaͤugige ſich beklagen — oder
Laſterhafte uͤber das Saͤumen der Nacht zuͤrnen. Geh aus der Sonn an den Schatten, eil in
die Winkel — wenn dir das Licht und die Waͤrme der Sonne unertraͤglich iſt .... Wer
umarmt nicht zuerſt den uͤberraſchenden Freund, ehe er ihn von oben bis unten beſichtiget —
und ſich hinſetzt, ihn abzuzeichnen?
O Leſer!
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/178>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.