Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.der moralischen und körperlichen Schönheit. Ohne allen erborgten Reiz und Affektation? So sanft und doch so leicht fortgehend, so an den mitDornen besäeten Felsen hinan, Himmel deutend? Es ist Schade, daß uns der Platz nicht gestattete, die ganze Figur, mithin auch den gan- Aber nun wieder auf unsere Tugend zurück zu kommen; sollte sie mir ganz gefallen? -- gend *) Winkelm. von der Kunst der Griechen. IV. Cap. S. 62.
der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit. Ohne allen erborgten Reiz und Affektation? So ſanft und doch ſo leicht fortgehend, ſo an den mitDornen beſaͤeten Felſen hinan, Himmel deutend? Es iſt Schade, daß uns der Platz nicht geſtattete, die ganze Figur, mithin auch den gan- Aber nun wieder auf unſere Tugend zuruͤck zu kommen; ſollte ſie mir ganz gefallen? — gend *) Winkelm. von der Kunſt der Griechen. IV. Cap. S. 62.
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der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
Ohne allen erborgten Reiz und Affektation? So ſanft und doch ſo leicht fortgehend, ſo an den mit
Dornen beſaͤeten Felſen hinan, Himmel deutend?
Es iſt Schade, daß uns der Platz nicht geſtattete, die ganze Figur, mithin auch den gan-
zen halb aufgehobnen Fuß anzubringen. Man weiß, daß Pouſſin Raphaeln und die Alten
mit Fleiß ſtudirt, und ſich beſonders auch die Simplicitaͤt in den Gebaͤhrden und der Stellung
ſeiner Figuren eigen zu machen geſucht. Winkelmann beklagt es mit Recht, daß die neuern
Kuͤnſtler, ſonderlich Bildhauer, nach entgegengeſetzten ſelbſt entworfnen Regeln arbeiten. „Die-
„ſe, ſagt er, haben mit ſolchen Grundſaͤtzen, die Kunſt zu verbeſſern in ſolcher guten Zuverſicht
„geglaubet, und haben ſich eingebildet, daß dieſelbe in der Aktion nicht zu ihrer voͤlligen Fein-
„heit gelanget ſey. Eben daher ſind die Nachfolger des Raphaels von demſelben abgegangen,
„und die Einfalt, in welcher er die Alten nachgeahmt, iſt eine marmorne Manier, das iſt ein
„ſteinernes todtes Weſen genannt worden — Einer der beruͤhmteſten itzo lebenden Mahler hat
„in ſeinem Herkules zwiſchen der Tugend und zwiſchen der Wolluſt, welches Stuͤck vor Kur-
„zem nach Rußland abgegangen iſt, die Tugend in der Geſtalt der Pallas nicht ſchoͤn zu ma-
„chen geglaubet, ohne den rechten vorwaͤrts geſetzten Fuß auf den Zehen allein ruhen zu laſſen,
„als wenn ſie eine Nuß zertreten wollte. Ein auf ſolche Weiſe erhobner Fuß wuͤrde bey den
„Alten ein Zeichen des Stolzes, oder nach dem Petronius der Unverſchaͤmtheit ſeyn; nach
„dem Euripides war dieſes der Stand der Bacchanten.“ *)
Aber nun wieder auf unſere Tugend zuruͤck zu kommen; ſollte ſie mir ganz gefallen? —
Sollte ſie mich ganz, und blos durch ſich ſelber einnehmen? Nein — dazu fehlt ihr noch viel.
Der Muͤßigkeit der einen Hand nicht zu gedenken. Sie iſt fuͤr die Tugend nicht ſchoͤn, bey
weitem nicht ſchoͤn genug, und verglichen mit der gegenuͤberſtehenden Wolluſt — wie wenig hat
ſie von dem allmaͤchtigen, uͤber ſie triumphirenden Goͤtterblick? Jhr Profil, obgleich von dem
Profile der Wolluſt etwas verſchieden, iſt dennoch von eben derſelben Art, und im Grunde
von demſelben Character: ſie iſt blos die aͤltere verheirathete Schweſter des maͤnnerſuͤchtigen
Maͤdchens. Jhr ganzes Geſicht iſt vielleicht blos durch die Simplicitaͤt, durch das ſichtbare
Profil des Kinns und des Halſes — durch das zuruͤckfliegende Haar gefaͤllig! Aber die Tu-
gend
*) Winkelm. von der Kunſt der Griechen. IV. Cap. S. 62.
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