Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.IX. Fragment. 20. Zugabe. Von der Harmonie ihn. Kein offenbares zurückgehaltenes Schmachten; kein Jnteresse zu gewinnen! Keine Ver-liebtheit in den nackten Helden! Beynah ein gedungenes und bezahltes Modell! Eine Akademie ohne Seele! ohne Schnellkraft, ohne Plan. Das ganze Profil könnte kaum gemeiner und alltäglicher seyn. Auch schickt sich dieß Vorhängen des Kopfes zu dem Character nicht, den diese Figur vorstellen soll. Jhr Gesicht lockt weder durch fröhliche Heiterkeit, noch durch zu- rücksinkende, oder zurückstrebende Verliebtheit oder Schwärmerey. Sie ist nicht fleischig ge- nug, um das Fleisch zu reizen, noch geistig genug, um den Geist zu verführen -- Oder, (wenn wir noch dem Künstler das Wort reden wollen) nimmt etwa hier die Wollust mit ei- ner Coquetterie, die kaum ihres Gleichen hat, plötzlich die Farbe, den Ton und die Gebähr- den der Tugend an; welche in ihrem Siege über den Helden augenscheinlich fortschreitet? Aber ein Mißtrauen in solchem Grade setzt wohl die eitele Schönheit in ihre eigenthümlichen geprüf- ten Reize nie! Und nun noch ein Wort von dem Cupido, der vor ihr steht und den Herkules mit Aus diesen wenigen Bemerkungen mags klar seyn, wie oft auch die besten Stücke bey ten
IX. Fragment. 20. Zugabe. Von der Harmonie ihn. Kein offenbares zuruͤckgehaltenes Schmachten; kein Jntereſſe zu gewinnen! Keine Ver-liebtheit in den nackten Helden! Beynah ein gedungenes und bezahltes Modell! Eine Akademie ohne Seele! ohne Schnellkraft, ohne Plan. Das ganze Profil koͤnnte kaum gemeiner und alltaͤglicher ſeyn. Auch ſchickt ſich dieß Vorhaͤngen des Kopfes zu dem Character nicht, den dieſe Figur vorſtellen ſoll. Jhr Geſicht lockt weder durch froͤhliche Heiterkeit, noch durch zu- ruͤckſinkende, oder zuruͤckſtrebende Verliebtheit oder Schwaͤrmerey. Sie iſt nicht fleiſchig ge- nug, um das Fleiſch zu reizen, noch geiſtig genug, um den Geiſt zu verfuͤhren — Oder, (wenn wir noch dem Kuͤnſtler das Wort reden wollen) nimmt etwa hier die Wolluſt mit ei- ner Coquetterie, die kaum ihres Gleichen hat, ploͤtzlich die Farbe, den Ton und die Gebaͤhr- den der Tugend an; welche in ihrem Siege uͤber den Helden augenſcheinlich fortſchreitet? Aber ein Mißtrauen in ſolchem Grade ſetzt wohl die eitele Schoͤnheit in ihre eigenthuͤmlichen gepruͤf- ten Reize nie! Und nun noch ein Wort von dem Cupido, der vor ihr ſteht und den Herkules mit Aus dieſen wenigen Bemerkungen mags klar ſeyn, wie oft auch die beſten Stuͤcke bey ten
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IX. Fragment. 20. Zugabe. Von der Harmonie
ihn. Kein offenbares zuruͤckgehaltenes Schmachten; kein Jntereſſe zu gewinnen! Keine Ver-
liebtheit in den nackten Helden! Beynah ein gedungenes und bezahltes Modell! Eine Akademie
ohne Seele! ohne Schnellkraft, ohne Plan. Das ganze Profil koͤnnte kaum gemeiner und
alltaͤglicher ſeyn. Auch ſchickt ſich dieß Vorhaͤngen des Kopfes zu dem Character nicht, den
dieſe Figur vorſtellen ſoll. Jhr Geſicht lockt weder durch froͤhliche Heiterkeit, noch durch zu-
ruͤckſinkende, oder zuruͤckſtrebende Verliebtheit oder Schwaͤrmerey. Sie iſt nicht fleiſchig ge-
nug, um das Fleiſch zu reizen, noch geiſtig genug, um den Geiſt zu verfuͤhren — Oder,
(wenn wir noch dem Kuͤnſtler das Wort reden wollen) nimmt etwa hier die Wolluſt mit ei-
ner Coquetterie, die kaum ihres Gleichen hat, ploͤtzlich die Farbe, den Ton und die Gebaͤhr-
den der Tugend an; welche in ihrem Siege uͤber den Helden augenſcheinlich fortſchreitet? Aber
ein Mißtrauen in ſolchem Grade ſetzt wohl die eitele Schoͤnheit in ihre eigenthuͤmlichen gepruͤf-
ten Reize nie!
Und nun noch ein Wort von dem Cupido, der vor ihr ſteht und den Herkules mit
Blumen gewinnen will. Der Knab iſt in keiner Abſicht ſonderlich ſchoͤn. Am wenigſten ſchoͤn
aber iſt ſein Geſicht. Jch ſeh auch gar nichts Reizendes drinn; nichts, das kraftvollen Be-
zug auf die Verfuͤhrung des Helden haben koͤnnte! Wolluͤſtig genug ſieht freylich der Junge
aus, und durch die Wolluſt merklich vergroͤbert! Dieſe Art von offenem Munde mag der
ſchmachtenden Wolluſt eigen ſeyn; kein, auch nur ein wenig geuͤbtes Auge wird ihn edel fin-
den. Die Naſe iſt ſo ſchlecht und ſo gut als ſie ſeyn kann. Fuͤr den Ausdruck niedriger
Wolluſt mag ſie ſich ganz gut ſchicken; aber ſchoͤn und reizend iſt ſie gewiß nicht. Das
Aug iſt das Beſte — im Ganzen aber fehlt abermal das Liebkoſende und Einſchmeichelnde.
Die empor gehaltene Roſe zeigt mehr die Allegorienkenntniß, als das Genie des Kuͤnſtlers an.
Mit einer Blume kann man ein Kind auf einige Augenblicke locken; aber einem geſetzten
Manne wie Herkules muß auch ein Kind durch andere Wege beykommen.
Aus dieſen wenigen Bemerkungen mags klar ſeyn, wie oft auch die beſten Stuͤcke bey
einiger genauern Unterſuchung verlieren, und wie viel phyſiognomiſcher Character den beruͤhm-
teſten Meiſtern fehlt. Je mehr ich Natur und Kunſt in dieſer Abſicht beobachte und vergleiche;
deſto mehr muß ich oft zu meinem aͤußerſten Erſtaunen davon uͤberzeugt werden, daß den groͤß-
ten
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