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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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der moralischen und körperlichen Schönheit.
"erhabner Blick, wie ins Unendliche, weit über seinen Sieg hinaus. Verachtung sitzt auf
"seinen Lippen, *) und der Unmuth, welchen er in sich zieht, blähet sich in den Nüssen seiner
"Nase, und tritt bis in die stolze Stirn hinauf. Aber der Friede, welcher in einer seligen
"Stille auf derselben schwebet, bleibt ungestört, und sein Aug' ist voll Süßigkeit, wie unter
"den Musen, die ihn zu umarmen suchen. Jn allen uns übrigen Bildern des Vaters der
"Götter, welche die Kunst verehret, nähert er sich nicht der Größe, in welcher er sich dem
"Verstande des göttlichen Dichters offenbarte, wie hier in dem Gesichte des Sohnes, und die
"einzelnen Schönheiten der übrigen Götter treten hier, wie bey der Pandore, in Gemeinschaft
"zusammen. Eine Stirn des Jupiters, die mit der Göttinn der Weisheit schwanger ist, und
"Augenbraunen, die durch ihr Winken ihren Willen erklären. Augen der Königinn der Göt-
"tinnen mit Großheit gewölbet, und ein Mund, welcher denjenigen bildet, der dem geliebten
"Bacchus die Wollüste einflößet. Sein weiches Haar spielet, wie die harten und flüßigen
"Schlingen edler Weinreben, gleichsam von einer sanften Luft bewegt, um dieses göttliche Haupt.
"Es scheint gesalbet mit dem Oele der Götter, und von den Grazien mit holder Pracht auf
"seinen Scheitel gebunden. Jch vergesse alles andre über dem Anblick dieses Wunderwerks der
"Kunst, und ich nehme selbst einen erhabenern Stand an, um mit Würdigkeit anzuschauen.
"Mit Verehrung scheint sich meine Brust zu erweitern, und zu erheben, wie diejenige, die ich,
"wie vom Geiste der Weissagung aufgeschwellt sehe, und ich fühle mich weggerückt nach De-
"los und in die Licischen Hayne, Orte, welche Apollo mit seiner Gegenwart beehrte; denn

"mein
*) Dieß ist unwidersprechlich, wiewohl ich glaube,
daß es besser ausgedrückt wäre: "Verachtung schwebt
"zwischen seinen Lippen." Die mittlere Linie, die
aus der Lage und dem Verhältniß bey den Lippen ent-
steht, drückt, wie ich sicher bemerkt habe, hohe gött-
liche Verachtung aus. Mithin ist das Urtheil Ho-
garths, der weder das Original gesehen hat, noch ei-
nen Abguß gesehen zu haben scheint, nicht richtig.
Es ist wahr: Verachtung ist nur zwischen den Lippen,
wenn sie von vorne unter hochherabfallendem Lichte[Spaltenumbruch]
angesehen werden. Sonst ist im ganzen übrigen Ge-
sichte keine Spur von Verachtung, -- weil dieß der
Schönheit würde geschadet haben, und dieser opferten
die Alten alles auf. "Kein Ausdruck ist bey den Al-
"ten so stark, daß er der Schönheit schadet. Sie sind
"überhaupt nicht der Natur, sondern dem Jdeal ge-
"folget. Alles, was einen besondern Menschen anzei-
"get, wurde von ihnen verworfen." Sulzers allgem.
Theorie der schönen Künste. Art. Antik.
S 3

der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
„erhabner Blick, wie ins Unendliche, weit uͤber ſeinen Sieg hinaus. Verachtung ſitzt auf
„ſeinen Lippen, *) und der Unmuth, welchen er in ſich zieht, blaͤhet ſich in den Nuͤſſen ſeiner
„Naſe, und tritt bis in die ſtolze Stirn hinauf. Aber der Friede, welcher in einer ſeligen
„Stille auf derſelben ſchwebet, bleibt ungeſtoͤrt, und ſein Aug' iſt voll Suͤßigkeit, wie unter
„den Muſen, die ihn zu umarmen ſuchen. Jn allen uns uͤbrigen Bildern des Vaters der
„Goͤtter, welche die Kunſt verehret, naͤhert er ſich nicht der Groͤße, in welcher er ſich dem
„Verſtande des goͤttlichen Dichters offenbarte, wie hier in dem Geſichte des Sohnes, und die
„einzelnen Schoͤnheiten der uͤbrigen Goͤtter treten hier, wie bey der Pandore, in Gemeinſchaft
„zuſammen. Eine Stirn des Jupiters, die mit der Goͤttinn der Weisheit ſchwanger iſt, und
„Augenbraunen, die durch ihr Winken ihren Willen erklaͤren. Augen der Koͤniginn der Goͤt-
„tinnen mit Großheit gewoͤlbet, und ein Mund, welcher denjenigen bildet, der dem geliebten
„Bacchus die Wolluͤſte einfloͤßet. Sein weiches Haar ſpielet, wie die harten und fluͤßigen
„Schlingen edler Weinreben, gleichſam von einer ſanften Luft bewegt, um dieſes goͤttliche Haupt.
„Es ſcheint geſalbet mit dem Oele der Goͤtter, und von den Grazien mit holder Pracht auf
„ſeinen Scheitel gebunden. Jch vergeſſe alles andre uͤber dem Anblick dieſes Wunderwerks der
„Kunſt, und ich nehme ſelbſt einen erhabenern Stand an, um mit Wuͤrdigkeit anzuſchauen.
„Mit Verehrung ſcheint ſich meine Bruſt zu erweitern, und zu erheben, wie diejenige, die ich,
„wie vom Geiſte der Weiſſagung aufgeſchwellt ſehe, und ich fuͤhle mich weggeruͤckt nach De-
„los und in die Liciſchen Hayne, Orte, welche Apollo mit ſeiner Gegenwart beehrte; denn

„mein
*) Dieß iſt unwiderſprechlich, wiewohl ich glaube,
daß es beſſer ausgedruͤckt waͤre: „Verachtung ſchwebt
„zwiſchen ſeinen Lippen.“ Die mittlere Linie, die
aus der Lage und dem Verhaͤltniß bey den Lippen ent-
ſteht, druͤckt, wie ich ſicher bemerkt habe, hohe goͤtt-
liche Verachtung aus. Mithin iſt das Urtheil Ho-
garths, der weder das Original geſehen hat, noch ei-
nen Abguß geſehen zu haben ſcheint, nicht richtig.
Es iſt wahr: Verachtung iſt nur zwiſchen den Lippen,
wenn ſie von vorne unter hochherabfallendem Lichte[Spaltenumbruch]
angeſehen werden. Sonſt iſt im ganzen uͤbrigen Ge-
ſichte keine Spur von Verachtung, — weil dieß der
Schoͤnheit wuͤrde geſchadet haben, und dieſer opferten
die Alten alles auf. „Kein Ausdruck iſt bey den Al-
„ten ſo ſtark, daß er der Schoͤnheit ſchadet. Sie ſind
„uͤberhaupt nicht der Natur, ſondern dem Jdeal ge-
„folget. Alles, was einen beſondern Menſchen anzei-
„get, wurde von ihnen verworfen.“ Sulzers allgem.
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S 3
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[133/0201] der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit. „erhabner Blick, wie ins Unendliche, weit uͤber ſeinen Sieg hinaus. Verachtung ſitzt auf „ſeinen Lippen, *) und der Unmuth, welchen er in ſich zieht, blaͤhet ſich in den Nuͤſſen ſeiner „Naſe, und tritt bis in die ſtolze Stirn hinauf. Aber der Friede, welcher in einer ſeligen „Stille auf derſelben ſchwebet, bleibt ungeſtoͤrt, und ſein Aug' iſt voll Suͤßigkeit, wie unter „den Muſen, die ihn zu umarmen ſuchen. Jn allen uns uͤbrigen Bildern des Vaters der „Goͤtter, welche die Kunſt verehret, naͤhert er ſich nicht der Groͤße, in welcher er ſich dem „Verſtande des goͤttlichen Dichters offenbarte, wie hier in dem Geſichte des Sohnes, und die „einzelnen Schoͤnheiten der uͤbrigen Goͤtter treten hier, wie bey der Pandore, in Gemeinſchaft „zuſammen. Eine Stirn des Jupiters, die mit der Goͤttinn der Weisheit ſchwanger iſt, und „Augenbraunen, die durch ihr Winken ihren Willen erklaͤren. Augen der Koͤniginn der Goͤt- „tinnen mit Großheit gewoͤlbet, und ein Mund, welcher denjenigen bildet, der dem geliebten „Bacchus die Wolluͤſte einfloͤßet. Sein weiches Haar ſpielet, wie die harten und fluͤßigen „Schlingen edler Weinreben, gleichſam von einer ſanften Luft bewegt, um dieſes goͤttliche Haupt. „Es ſcheint geſalbet mit dem Oele der Goͤtter, und von den Grazien mit holder Pracht auf „ſeinen Scheitel gebunden. Jch vergeſſe alles andre uͤber dem Anblick dieſes Wunderwerks der „Kunſt, und ich nehme ſelbſt einen erhabenern Stand an, um mit Wuͤrdigkeit anzuſchauen. „Mit Verehrung ſcheint ſich meine Bruſt zu erweitern, und zu erheben, wie diejenige, die ich, „wie vom Geiſte der Weiſſagung aufgeſchwellt ſehe, und ich fuͤhle mich weggeruͤckt nach De- „los und in die Liciſchen Hayne, Orte, welche Apollo mit ſeiner Gegenwart beehrte; denn „mein *) Dieß iſt unwiderſprechlich, wiewohl ich glaube, daß es beſſer ausgedruͤckt waͤre: „Verachtung ſchwebt „zwiſchen ſeinen Lippen.“ Die mittlere Linie, die aus der Lage und dem Verhaͤltniß bey den Lippen ent- ſteht, druͤckt, wie ich ſicher bemerkt habe, hohe goͤtt- liche Verachtung aus. Mithin iſt das Urtheil Ho- garths, der weder das Original geſehen hat, noch ei- nen Abguß geſehen zu haben ſcheint, nicht richtig. Es iſt wahr: Verachtung iſt nur zwiſchen den Lippen, wenn ſie von vorne unter hochherabfallendem Lichte angeſehen werden. Sonſt iſt im ganzen uͤbrigen Ge- ſichte keine Spur von Verachtung, — weil dieß der Schoͤnheit wuͤrde geſchadet haben, und dieſer opferten die Alten alles auf. „Kein Ausdruck iſt bey den Al- „ten ſo ſtark, daß er der Schoͤnheit ſchadet. Sie ſind „uͤberhaupt nicht der Natur, ſondern dem Jdeal ge- „folget. Alles, was einen beſondern Menſchen anzei- „get, wurde von ihnen verworfen.“ Sulzers allgem. Theorie der ſchoͤnen Kuͤnſte. Art. Antik. S 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/201>, abgerufen am 21.11.2024.