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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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der moralischen und körperlichen Schönheit.
von der Spitze der Nase bis zum Anfang der Oberlippe! und wie viel edler macht dieser ge-
ringe Unterschied den obern Kopf, als den untern! Wie wenig beträgts, daß die Oberlippe
und Unterlippe des obern innwendig runder ist, als des untern -- und dennoch wie viel re-
dender ist bloß durch diesen geringscheinenden Unterschied der obere als der untere? Wie viel plat-
ter, fader ist blos durch diese kleine Verschiedenheit der Mund des untern, als des obern! --
Wer dieß nicht sieht, dem kann ich nicht helfen! -- "Wessen Geist, sagt Sulzer, nach öfterer
"Betrachtung der besten Antiken, nicht in Entzückung geräth; wer nicht in dem Sichtbaren
"derselben unsichtbare Vollkommenheit fühlt, der lege die Reisfeder weg; ihm hilft die Antike
"nicht." -- Und wer den Unterschied dieser beyden Köpfe nicht sieht; in diesem Unterschied kei-
nen Unterschied des Characters fühlt -- der lege mein Buch weg! Meine Erklärung hilft
ihm nichts.

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Zehentes

der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
von der Spitze der Naſe bis zum Anfang der Oberlippe! und wie viel edler macht dieſer ge-
ringe Unterſchied den obern Kopf, als den untern! Wie wenig betraͤgts, daß die Oberlippe
und Unterlippe des obern innwendig runder iſt, als des untern — und dennoch wie viel re-
dender iſt bloß durch dieſen geringſcheinenden Unterſchied der obere als der untere? Wie viel plat-
ter, fader iſt blos durch dieſe kleine Verſchiedenheit der Mund des untern, als des obern! —
Wer dieß nicht ſieht, dem kann ich nicht helfen! — „Weſſen Geiſt, ſagt Sulzer, nach oͤfterer
„Betrachtung der beſten Antiken, nicht in Entzuͤckung geraͤth; wer nicht in dem Sichtbaren
„derſelben unſichtbare Vollkommenheit fuͤhlt, der lege die Reisfeder weg; ihm hilft die Antike
„nicht.“ — Und wer den Unterſchied dieſer beyden Koͤpfe nicht ſieht; in dieſem Unterſchied kei-
nen Unterſchied des Characters fuͤhlt — der lege mein Buch weg! Meine Erklaͤrung hilft
ihm nichts.

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Zehentes
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[135/0203] der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit. von der Spitze der Naſe bis zum Anfang der Oberlippe! und wie viel edler macht dieſer ge- ringe Unterſchied den obern Kopf, als den untern! Wie wenig betraͤgts, daß die Oberlippe und Unterlippe des obern innwendig runder iſt, als des untern — und dennoch wie viel re- dender iſt bloß durch dieſen geringſcheinenden Unterſchied der obere als der untere? Wie viel plat- ter, fader iſt blos durch dieſe kleine Verſchiedenheit der Mund des untern, als des obern! — Wer dieß nicht ſieht, dem kann ich nicht helfen! — „Weſſen Geiſt, ſagt Sulzer, nach oͤfterer „Betrachtung der beſten Antiken, nicht in Entzuͤckung geraͤth; wer nicht in dem Sichtbaren „derſelben unſichtbare Vollkommenheit fuͤhlt, der lege die Reisfeder weg; ihm hilft die Antike „nicht.“ — Und wer den Unterſchied dieſer beyden Koͤpfe nicht ſieht; in dieſem Unterſchied kei- nen Unterſchied des Characters fuͤhlt — der lege mein Buch weg! Meine Erklaͤrung hilft ihm nichts. [Abbildung] Zehentes

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/203>, abgerufen am 24.11.2024.