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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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Vom Nutzen der Physiognomik.

Man denke sich in die Sphären eines Staatsmanns, Seelsorgers, Predigers, Hofmei-
sters, Arztes, Kaufmanns, Freundes, Hausvaters, Ehegenossen -- hinein, und schnell wird
man empfinden, wie mannichfaltigen, wichtigen Gebrauch jeder in seine Sphäre von physiognomi-
schen Kenntnissen machen kann. Man könnte für jeden dieser Stände eine besondere Physiognomik
schreiben. *) (Von dem Character des Physiognomisten, und von den Behutsamkeiten im Urthei-
len -- werden wir auch noch zu reden Gelegenheit haben, und ich muß meine Leser zum voraus
bitten, die Fragmente über diese Stücke mit doppelter Aufmerksamkeit zu lesen und durchzudenken.)



Ferner. Man muß, wenn man von dem Nutzen der Physiognomik redet, nie blos auf
das sehen, was im strengern Sinne wissenschaftlich heißen kann, und was in dieser Absicht gelei-
stet wird, vielmehr muß man dieses in Verbindung mit einer unmittelbaren Folge betrachten, die
alle öffentliche Beyträge zur Physiognomik ohne Zweifel haben; ich meyne die Erweckung und
Veranlassung zur Verfeinerung der Beobachtung und des physiognomischen Sinnes.

Wenn nun aber dieser physiognomische Sinn je mit der Empfindung des Schönen und
Häßlichen, mit Gefühl der Vollkommenheit und Unvollkommenheit gepaart geht -- (und welcher
wohldenkende physiognomische Schriftsteller wird nicht immer beyde zugleich üben und reizen wol-
len?) welchen wichtigen ausgebreiteten Nutzen kann nicht da die Physiognomik haben? wie er-
hebt sich meine Brust bey der Ahndung -- daß so viel Gefühl fürs Edle und Schöne, so viel Ab-
scheu vor dem Niedrigen und Unedlen erweckt wird -- daß so viele Reize zum Guten auf jeden
Menschen, der seine Auge physiognomisch übt, wirken müssen; daß der Mensch, der nun mehr im
Anschaun und unmittelbaren Gefühl von der Schönheit der Tugend und Häßlichkeit des Lasters
wandelt, so mächtig, so sanft, so mannichfaltig und unaufhörlich angereizt wird, und erweckt
zur Vervollkommnung seiner Natur.



Die Physiognomik ist eine Quelle der feinsten und erhabensten Empfindungen; ein neues
Auge, die tausendfältigen Ausdrücke der göttlichen Weisheit und Güte zu bemerken, um den an-

betens-
*) Jn Strykii dissertationibus Iuridicis findet sich
eine de Physiognomia, die verschiedenes Lesenswür-[Spaltenumbruch]
diges enthält, obgleich sie sehr mangelhaft ist. Es
ist die XIII. S. 461. T. V.
Vom Nutzen der Phyſiognomik.

Man denke ſich in die Sphaͤren eines Staatsmanns, Seelſorgers, Predigers, Hofmei-
ſters, Arztes, Kaufmanns, Freundes, Hausvaters, Ehegenoſſen — hinein, und ſchnell wird
man empfinden, wie mannichfaltigen, wichtigen Gebrauch jeder in ſeine Sphaͤre von phyſiognomi-
ſchen Kenntniſſen machen kann. Man koͤnnte fuͤr jeden dieſer Staͤnde eine beſondere Phyſiognomik
ſchreiben. *) (Von dem Character des Phyſiognomiſten, und von den Behutſamkeiten im Urthei-
len — werden wir auch noch zu reden Gelegenheit haben, und ich muß meine Leſer zum voraus
bitten, die Fragmente uͤber dieſe Stuͤcke mit doppelter Aufmerkſamkeit zu leſen und durchzudenken.)



Ferner. Man muß, wenn man von dem Nutzen der Phyſiognomik redet, nie blos auf
das ſehen, was im ſtrengern Sinne wiſſenſchaftlich heißen kann, und was in dieſer Abſicht gelei-
ſtet wird, vielmehr muß man dieſes in Verbindung mit einer unmittelbaren Folge betrachten, die
alle oͤffentliche Beytraͤge zur Phyſiognomik ohne Zweifel haben; ich meyne die Erweckung und
Veranlaſſung zur Verfeinerung der Beobachtung und des phyſiognomiſchen Sinnes.

Wenn nun aber dieſer phyſiognomiſche Sinn je mit der Empfindung des Schoͤnen und
Haͤßlichen, mit Gefuͤhl der Vollkommenheit und Unvollkommenheit gepaart geht — (und welcher
wohldenkende phyſiognomiſche Schriftſteller wird nicht immer beyde zugleich uͤben und reizen wol-
len?) welchen wichtigen ausgebreiteten Nutzen kann nicht da die Phyſiognomik haben? wie er-
hebt ſich meine Bruſt bey der Ahndung — daß ſo viel Gefuͤhl fuͤrs Edle und Schoͤne, ſo viel Ab-
ſcheu vor dem Niedrigen und Unedlen erweckt wird — daß ſo viele Reize zum Guten auf jeden
Menſchen, der ſeine Auge phyſiognomiſch uͤbt, wirken muͤſſen; daß der Menſch, der nun mehr im
Anſchaun und unmittelbaren Gefuͤhl von der Schoͤnheit der Tugend und Haͤßlichkeit des Laſters
wandelt, ſo maͤchtig, ſo ſanft, ſo mannichfaltig und unaufhoͤrlich angereizt wird, und erweckt
zur Vervollkommnung ſeiner Natur.



Die Phyſiognomik iſt eine Quelle der feinſten und erhabenſten Empfindungen; ein neues
Auge, die tauſendfaͤltigen Ausdruͤcke der goͤttlichen Weisheit und Guͤte zu bemerken, um den an-

betens-
*) Jn Strykii diſſertationibus Iuridicis findet ſich
eine de Phyſiognomia, die verſchiedenes Leſenswuͤr-[Spaltenumbruch]
diges enthaͤlt, obgleich ſie ſehr mangelhaft iſt. Es
iſt die XIII. S. 461. T. V.
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[159/0227] Vom Nutzen der Phyſiognomik. Man denke ſich in die Sphaͤren eines Staatsmanns, Seelſorgers, Predigers, Hofmei- ſters, Arztes, Kaufmanns, Freundes, Hausvaters, Ehegenoſſen — hinein, und ſchnell wird man empfinden, wie mannichfaltigen, wichtigen Gebrauch jeder in ſeine Sphaͤre von phyſiognomi- ſchen Kenntniſſen machen kann. Man koͤnnte fuͤr jeden dieſer Staͤnde eine beſondere Phyſiognomik ſchreiben. *) (Von dem Character des Phyſiognomiſten, und von den Behutſamkeiten im Urthei- len — werden wir auch noch zu reden Gelegenheit haben, und ich muß meine Leſer zum voraus bitten, die Fragmente uͤber dieſe Stuͤcke mit doppelter Aufmerkſamkeit zu leſen und durchzudenken.) Ferner. Man muß, wenn man von dem Nutzen der Phyſiognomik redet, nie blos auf das ſehen, was im ſtrengern Sinne wiſſenſchaftlich heißen kann, und was in dieſer Abſicht gelei- ſtet wird, vielmehr muß man dieſes in Verbindung mit einer unmittelbaren Folge betrachten, die alle oͤffentliche Beytraͤge zur Phyſiognomik ohne Zweifel haben; ich meyne die Erweckung und Veranlaſſung zur Verfeinerung der Beobachtung und des phyſiognomiſchen Sinnes. Wenn nun aber dieſer phyſiognomiſche Sinn je mit der Empfindung des Schoͤnen und Haͤßlichen, mit Gefuͤhl der Vollkommenheit und Unvollkommenheit gepaart geht — (und welcher wohldenkende phyſiognomiſche Schriftſteller wird nicht immer beyde zugleich uͤben und reizen wol- len?) welchen wichtigen ausgebreiteten Nutzen kann nicht da die Phyſiognomik haben? wie er- hebt ſich meine Bruſt bey der Ahndung — daß ſo viel Gefuͤhl fuͤrs Edle und Schoͤne, ſo viel Ab- ſcheu vor dem Niedrigen und Unedlen erweckt wird — daß ſo viele Reize zum Guten auf jeden Menſchen, der ſeine Auge phyſiognomiſch uͤbt, wirken muͤſſen; daß der Menſch, der nun mehr im Anſchaun und unmittelbaren Gefuͤhl von der Schoͤnheit der Tugend und Haͤßlichkeit des Laſters wandelt, ſo maͤchtig, ſo ſanft, ſo mannichfaltig und unaufhoͤrlich angereizt wird, und erweckt zur Vervollkommnung ſeiner Natur. Die Phyſiognomik iſt eine Quelle der feinſten und erhabenſten Empfindungen; ein neues Auge, die tauſendfaͤltigen Ausdruͤcke der goͤttlichen Weisheit und Guͤte zu bemerken, um den an- betens- *) Jn Strykii diſſertationibus Iuridicis findet ſich eine de Phyſiognomia, die verſchiedenes Leſenswuͤr- diges enthaͤlt, obgleich ſie ſehr mangelhaft iſt. Es iſt die XIII. S. 461. T. V.

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/227>, abgerufen am 24.11.2024.