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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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XV. Fragment.
vorzüglichen Verstand wird also der Physiognomist weder richtig beobachten, noch seine Beobach-
tungen reihen, und vergleichen, noch vielweniger die gehörigen Folgen daraus herleiten können.
Die Physiognomik ist die größte Uebung des Verstandes; die Logik der körperlichen Verschieden-
heiten! -- Welch eine Festigkeit, Sicherheit, Reife des Verstandes erforderts -- recht zu se-
hen? Nicht mehr, und nicht weniger zu sehen, als sich der Beobachtung darstellt? Nicht mehr
und nicht weniger zu schließen, als richtige Beobachtungen und Prämissen in sich fassen? Welche
Uebung des Verstandes, den Punkt zu wissen, wo man der sichern, zuverläßigen, bestimmten Be-
obachtungen genug hat; die verschiedenen Wege zur physiognomischen Wahrheit zu entdecken,
ihren verhältnißmäßigen Werth zu schätzen; und jeden brauchbar zu machen?

Mit dem hellesten und tiefsten Verstande verbindet der wahre Physiognomist eine lebhafte,
starke, vielfassende Jmagination, und einen feinen und schnellen Witz. Jmagination, um sich
alle Züge, nett und ohne Mühe einzuprägen, und sich, so oft er will, mit Leichtigkeit zu erneuern:
in seinem Kopfe die Bilder, wie er will, zu reihen; als ob sie ihm vorm Auge stünden, als ob
er sie mit seinen Händen hin und her versetzen könnte, so muß er's mit der Jmagination zu thun
im Stande seyn.

Witz ist ihm eben so unentbehrlich, um die Aehnlichkeit gefundener Merkmale mit andern
Dingen leicht zu finden. Er sieht, zum Exempel, einen solchen oder solchen Kopf, solch oder solche
Stirne, die etwas Characteristisches haben. Dieß Characteristische prägt sich seine Jmagination
sogleich ein, und sein Witz führt ihm Aehnlichkeiten herbey -- die seinen Bildern mehr Bestim-
mung, Festigkeit, Zeichen und Ausdruck leihen können. Er muß die Fertigkeit besitzen, Approxi-
mationen zu jedem bemerkten characteristischen Zuge zu bemerken -- und die Grade dieser Appro-
ximationen vermittelst des Witzes zu bezeichnen. Ohne einen großen Grad von geübtestem Witze
wird es ihm unmöglich seyn, seine Beobachtungen auch nur einigermaßen erträglich auszudrücken.
Der Witz allein bildet und erschafft die physiognomische, itzt noch so unaussprechlich arme, Sprache.
Ohne einen unerschöpflichen Reichthum der Sprache wird keiner ein großer Physiognomist wer-
den können. Der höchstmögliche Reichthum der Sprache ist Armuth gegen das Bedürfniß der
Physiognomik. -- Der Physiognomist muß die Sprache vollkommen in seiner Gewalt haben. Er

muß

XV. Fragment.
vorzuͤglichen Verſtand wird alſo der Phyſiognomiſt weder richtig beobachten, noch ſeine Beobach-
tungen reihen, und vergleichen, noch vielweniger die gehoͤrigen Folgen daraus herleiten koͤnnen.
Die Phyſiognomik iſt die groͤßte Uebung des Verſtandes; die Logik der koͤrperlichen Verſchieden-
heiten! — Welch eine Feſtigkeit, Sicherheit, Reife des Verſtandes erforderts — recht zu ſe-
hen? Nicht mehr, und nicht weniger zu ſehen, als ſich der Beobachtung darſtellt? Nicht mehr
und nicht weniger zu ſchließen, als richtige Beobachtungen und Praͤmiſſen in ſich faſſen? Welche
Uebung des Verſtandes, den Punkt zu wiſſen, wo man der ſichern, zuverlaͤßigen, beſtimmten Be-
obachtungen genug hat; die verſchiedenen Wege zur phyſiognomiſchen Wahrheit zu entdecken,
ihren verhaͤltnißmaͤßigen Werth zu ſchaͤtzen; und jeden brauchbar zu machen?

Mit dem helleſten und tiefſten Verſtande verbindet der wahre Phyſiognomiſt eine lebhafte,
ſtarke, vielfaſſende Jmagination, und einen feinen und ſchnellen Witz. Jmagination, um ſich
alle Zuͤge, nett und ohne Muͤhe einzupraͤgen, und ſich, ſo oft er will, mit Leichtigkeit zu erneuern:
in ſeinem Kopfe die Bilder, wie er will, zu reihen; als ob ſie ihm vorm Auge ſtuͤnden, als ob
er ſie mit ſeinen Haͤnden hin und her verſetzen koͤnnte, ſo muß er's mit der Jmagination zu thun
im Stande ſeyn.

Witz iſt ihm eben ſo unentbehrlich, um die Aehnlichkeit gefundener Merkmale mit andern
Dingen leicht zu finden. Er ſieht, zum Exempel, einen ſolchen oder ſolchen Kopf, ſolch oder ſolche
Stirne, die etwas Characteriſtiſches haben. Dieß Characteriſtiſche praͤgt ſich ſeine Jmagination
ſogleich ein, und ſein Witz fuͤhrt ihm Aehnlichkeiten herbey — die ſeinen Bildern mehr Beſtim-
mung, Feſtigkeit, Zeichen und Ausdruck leihen koͤnnen. Er muß die Fertigkeit beſitzen, Approxi-
mationen zu jedem bemerkten characteriſtiſchen Zuge zu bemerken — und die Grade dieſer Appro-
ximationen vermittelſt des Witzes zu bezeichnen. Ohne einen großen Grad von geuͤbteſtem Witze
wird es ihm unmoͤglich ſeyn, ſeine Beobachtungen auch nur einigermaßen ertraͤglich auszudruͤcken.
Der Witz allein bildet und erſchafft die phyſiognomiſche, itzt noch ſo unausſprechlich arme, Sprache.
Ohne einen unerſchoͤpflichen Reichthum der Sprache wird keiner ein großer Phyſiognomiſt wer-
den koͤnnen. Der hoͤchſtmoͤgliche Reichthum der Sprache iſt Armuth gegen das Beduͤrfniß der
Phyſiognomik. — Der Phyſiognomiſt muß die Sprache vollkommen in ſeiner Gewalt haben. Er

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[174/0242] XV. Fragment. vorzuͤglichen Verſtand wird alſo der Phyſiognomiſt weder richtig beobachten, noch ſeine Beobach- tungen reihen, und vergleichen, noch vielweniger die gehoͤrigen Folgen daraus herleiten koͤnnen. Die Phyſiognomik iſt die groͤßte Uebung des Verſtandes; die Logik der koͤrperlichen Verſchieden- heiten! — Welch eine Feſtigkeit, Sicherheit, Reife des Verſtandes erforderts — recht zu ſe- hen? Nicht mehr, und nicht weniger zu ſehen, als ſich der Beobachtung darſtellt? Nicht mehr und nicht weniger zu ſchließen, als richtige Beobachtungen und Praͤmiſſen in ſich faſſen? Welche Uebung des Verſtandes, den Punkt zu wiſſen, wo man der ſichern, zuverlaͤßigen, beſtimmten Be- obachtungen genug hat; die verſchiedenen Wege zur phyſiognomiſchen Wahrheit zu entdecken, ihren verhaͤltnißmaͤßigen Werth zu ſchaͤtzen; und jeden brauchbar zu machen? Mit dem helleſten und tiefſten Verſtande verbindet der wahre Phyſiognomiſt eine lebhafte, ſtarke, vielfaſſende Jmagination, und einen feinen und ſchnellen Witz. Jmagination, um ſich alle Zuͤge, nett und ohne Muͤhe einzupraͤgen, und ſich, ſo oft er will, mit Leichtigkeit zu erneuern: in ſeinem Kopfe die Bilder, wie er will, zu reihen; als ob ſie ihm vorm Auge ſtuͤnden, als ob er ſie mit ſeinen Haͤnden hin und her verſetzen koͤnnte, ſo muß er's mit der Jmagination zu thun im Stande ſeyn. Witz iſt ihm eben ſo unentbehrlich, um die Aehnlichkeit gefundener Merkmale mit andern Dingen leicht zu finden. Er ſieht, zum Exempel, einen ſolchen oder ſolchen Kopf, ſolch oder ſolche Stirne, die etwas Characteriſtiſches haben. Dieß Characteriſtiſche praͤgt ſich ſeine Jmagination ſogleich ein, und ſein Witz fuͤhrt ihm Aehnlichkeiten herbey — die ſeinen Bildern mehr Beſtim- mung, Feſtigkeit, Zeichen und Ausdruck leihen koͤnnen. Er muß die Fertigkeit beſitzen, Approxi- mationen zu jedem bemerkten characteriſtiſchen Zuge zu bemerken — und die Grade dieſer Appro- ximationen vermittelſt des Witzes zu bezeichnen. Ohne einen großen Grad von geuͤbteſtem Witze wird es ihm unmoͤglich ſeyn, ſeine Beobachtungen auch nur einigermaßen ertraͤglich auszudruͤcken. Der Witz allein bildet und erſchafft die phyſiognomiſche, itzt noch ſo unausſprechlich arme, Sprache. Ohne einen unerſchoͤpflichen Reichthum der Sprache wird keiner ein großer Phyſiognomiſt wer- den koͤnnen. Der hoͤchſtmoͤgliche Reichthum der Sprache iſt Armuth gegen das Beduͤrfniß der Phyſiognomik. — Der Phyſiognomiſt muß die Sprache vollkommen in ſeiner Gewalt haben. Er muß

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/242>, abgerufen am 21.11.2024.