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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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XV. Fragment.
züglich aber die äußerlichen Zeichen der Beschaffenheit des ganzen Nervensystems wissen, wor-
auf bey Erforschung der Temperamente so viel mehr ankömmt, als auf die Kenntniß des
Blutes.

Aber welch ein geübter tiefer Kenner des menschlichen Herzens und der Welt sollt' er
seyn? Wie tief sich selbst durchzuschauen, zu beobachten, zu ertappen gewohnt! -- Diese schwer-
ste, diese nöthigste, diese wichtigste aller Kenntnisse sollte der Physiognomist auf die vollkom-
menste Weise besitzen, wie's nur möglich ist. Nur nach dem Maaße als er sich kennt, wird er
andere zu kennen fähig seyn. Nicht nur überhaupt ist ihm diese Selbstkenntniß, dieses Stu-
dium des menschlichen, und besonders seines eignen Herzens, der Genealogie und Verschwiste-
rung der Neigungen und Leidenschaften, der Symptomen und Verwandlungen derselben un-
entbehrlich. Diese genauste Selbsterkenntniß ist ihm auch noch um eines andern Grundes wil-
len äußerst nöthig. "Die besondern Nüancen" (ich bediene mich hier der Worte eines Recensen-
ten meiner ersten kleinen Versuche, von denen ich das wenige Brauchbare nun dem gegenwär-
tigen Werke einschmelze; des einzigen Recensenten, der sich die Mühe genommen, und die Bil-
ligkeit gehabt hat, in den Körper und Geist dieser Brochüren einzudringen, und mich gegen
die unbesonnenen Verurtheilungen so mancher Witzlinge, ohne mit mir in dem geringsten
Verhältnisse zu stehen, in Schutz genommen hat, wiewohl er sonst in hundert andern Dingen
so verschieden, wie möglich, von mir denket; dieses Mannes Worte will ich hier anführen:)
"die besondern Nüancen in den Empfindungen, die der Beobachter an dem Objecte vorzüglich
"wahrnimmt, beziehen sich oft auf seine eigne Seele, und werden ihm nur durch die Art,
"mit der seine eigene Geisteskräfte gemischt sind, durch die besondere Art, mit der er alle Ge-
"genstände in der physikalischen und moralischen Welt betrachtet, vorzüglich vor andern sicht-
"bar, und erscheinen ihm auch unter einem besondern Augpunkte. Daher sind eine Menge
"solcher Beobachtungen nur blos für den Beobachter selbst, und so lebhaft sie auch von ihm
"empfunden werden, können sie von ihm doch nicht leicht andern mitgetheilt werden. Gleich-
"wohl haben diese feinen Beobachtungen sicherlich einen Einfluß in das Urtheil. Der Phy-
"siognomist muß also, wenn er sich selbst kennt (und dieß sollte man billig, ehe man andere
"wollte kennen lernen) das Resultat seiner Beobachtungen wieder mit seiner eigenen Denkens-

"art

XV. Fragment.
zuͤglich aber die aͤußerlichen Zeichen der Beſchaffenheit des ganzen Nervenſyſtems wiſſen, wor-
auf bey Erforſchung der Temperamente ſo viel mehr ankoͤmmt, als auf die Kenntniß des
Blutes.

Aber welch ein geuͤbter tiefer Kenner des menſchlichen Herzens und der Welt ſollt' er
ſeyn? Wie tief ſich ſelbſt durchzuſchauen, zu beobachten, zu ertappen gewohnt! — Dieſe ſchwer-
ſte, dieſe noͤthigſte, dieſe wichtigſte aller Kenntniſſe ſollte der Phyſiognomiſt auf die vollkom-
menſte Weiſe beſitzen, wie's nur moͤglich iſt. Nur nach dem Maaße als er ſich kennt, wird er
andere zu kennen faͤhig ſeyn. Nicht nur uͤberhaupt iſt ihm dieſe Selbſtkenntniß, dieſes Stu-
dium des menſchlichen, und beſonders ſeines eignen Herzens, der Genealogie und Verſchwiſte-
rung der Neigungen und Leidenſchaften, der Symptomen und Verwandlungen derſelben un-
entbehrlich. Dieſe genauſte Selbſterkenntniß iſt ihm auch noch um eines andern Grundes wil-
len aͤußerſt noͤthig. „Die beſondern Nuͤancen“ (ich bediene mich hier der Worte eines Recenſen-
ten meiner erſten kleinen Verſuche, von denen ich das wenige Brauchbare nun dem gegenwaͤr-
tigen Werke einſchmelze; des einzigen Recenſenten, der ſich die Muͤhe genommen, und die Bil-
ligkeit gehabt hat, in den Koͤrper und Geiſt dieſer Brochuͤren einzudringen, und mich gegen
die unbeſonnenen Verurtheilungen ſo mancher Witzlinge, ohne mit mir in dem geringſten
Verhaͤltniſſe zu ſtehen, in Schutz genommen hat, wiewohl er ſonſt in hundert andern Dingen
ſo verſchieden, wie moͤglich, von mir denket; dieſes Mannes Worte will ich hier anfuͤhren:)
„die beſondern Nuͤancen in den Empfindungen, die der Beobachter an dem Objecte vorzuͤglich
„wahrnimmt, beziehen ſich oft auf ſeine eigne Seele, und werden ihm nur durch die Art,
„mit der ſeine eigene Geiſteskraͤfte gemiſcht ſind, durch die beſondere Art, mit der er alle Ge-
„genſtaͤnde in der phyſikaliſchen und moraliſchen Welt betrachtet, vorzuͤglich vor andern ſicht-
„bar, und erſcheinen ihm auch unter einem beſondern Augpunkte. Daher ſind eine Menge
„ſolcher Beobachtungen nur blos fuͤr den Beobachter ſelbſt, und ſo lebhaft ſie auch von ihm
„empfunden werden, koͤnnen ſie von ihm doch nicht leicht andern mitgetheilt werden. Gleich-
„wohl haben dieſe feinen Beobachtungen ſicherlich einen Einfluß in das Urtheil. Der Phy-
„ſiognomiſt muß alſo, wenn er ſich ſelbſt kennt (und dieß ſollte man billig, ehe man andere
„wollte kennen lernen) das Reſultat ſeiner Beobachtungen wieder mit ſeiner eigenen Denkens-

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[176/0244] XV. Fragment. zuͤglich aber die aͤußerlichen Zeichen der Beſchaffenheit des ganzen Nervenſyſtems wiſſen, wor- auf bey Erforſchung der Temperamente ſo viel mehr ankoͤmmt, als auf die Kenntniß des Blutes. Aber welch ein geuͤbter tiefer Kenner des menſchlichen Herzens und der Welt ſollt' er ſeyn? Wie tief ſich ſelbſt durchzuſchauen, zu beobachten, zu ertappen gewohnt! — Dieſe ſchwer- ſte, dieſe noͤthigſte, dieſe wichtigſte aller Kenntniſſe ſollte der Phyſiognomiſt auf die vollkom- menſte Weiſe beſitzen, wie's nur moͤglich iſt. Nur nach dem Maaße als er ſich kennt, wird er andere zu kennen faͤhig ſeyn. Nicht nur uͤberhaupt iſt ihm dieſe Selbſtkenntniß, dieſes Stu- dium des menſchlichen, und beſonders ſeines eignen Herzens, der Genealogie und Verſchwiſte- rung der Neigungen und Leidenſchaften, der Symptomen und Verwandlungen derſelben un- entbehrlich. Dieſe genauſte Selbſterkenntniß iſt ihm auch noch um eines andern Grundes wil- len aͤußerſt noͤthig. „Die beſondern Nuͤancen“ (ich bediene mich hier der Worte eines Recenſen- ten meiner erſten kleinen Verſuche, von denen ich das wenige Brauchbare nun dem gegenwaͤr- tigen Werke einſchmelze; des einzigen Recenſenten, der ſich die Muͤhe genommen, und die Bil- ligkeit gehabt hat, in den Koͤrper und Geiſt dieſer Brochuͤren einzudringen, und mich gegen die unbeſonnenen Verurtheilungen ſo mancher Witzlinge, ohne mit mir in dem geringſten Verhaͤltniſſe zu ſtehen, in Schutz genommen hat, wiewohl er ſonſt in hundert andern Dingen ſo verſchieden, wie moͤglich, von mir denket; dieſes Mannes Worte will ich hier anfuͤhren:) „die beſondern Nuͤancen in den Empfindungen, die der Beobachter an dem Objecte vorzuͤglich „wahrnimmt, beziehen ſich oft auf ſeine eigne Seele, und werden ihm nur durch die Art, „mit der ſeine eigene Geiſteskraͤfte gemiſcht ſind, durch die beſondere Art, mit der er alle Ge- „genſtaͤnde in der phyſikaliſchen und moraliſchen Welt betrachtet, vorzuͤglich vor andern ſicht- „bar, und erſcheinen ihm auch unter einem beſondern Augpunkte. Daher ſind eine Menge „ſolcher Beobachtungen nur blos fuͤr den Beobachter ſelbſt, und ſo lebhaft ſie auch von ihm „empfunden werden, koͤnnen ſie von ihm doch nicht leicht andern mitgetheilt werden. Gleich- „wohl haben dieſe feinen Beobachtungen ſicherlich einen Einfluß in das Urtheil. Der Phy- „ſiognomiſt muß alſo, wenn er ſich ſelbſt kennt (und dieß ſollte man billig, ehe man andere „wollte kennen lernen) das Reſultat ſeiner Beobachtungen wieder mit ſeiner eigenen Denkens- „art

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/244>, abgerufen am 21.11.2024.