Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.XV. Fragment. Soll dir deine Beobachtungskunst nicht zur Quaal, und deinem Nebenmenschen nicht Hätt' ich etwas vom Geiste jener erhabnen Menschenkenner, die mit Gottes Gewißheit Daß der Physiognomist Kenner der Welt seyn, mit den verschiedendsten Menschen in achtungs-
XV. Fragment. Soll dir deine Beobachtungskunſt nicht zur Quaal, und deinem Nebenmenſchen nicht Haͤtt' ich etwas vom Geiſte jener erhabnen Menſchenkenner, die mit Gottes Gewißheit Daß der Phyſiognomiſt Kenner der Welt ſeyn, mit den verſchiedendſten Menſchen in achtungs-
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XV. Fragment.
Soll dir deine Beobachtungskunſt nicht zur Quaal, und deinem Nebenmenſchen nicht
zum Nachtheil gereichen; wie gut, wie ſanft, unſchuldig und liebreich muß dein Herz ſeyn!
Wie willſt du Liebe ſehen, ohne Liebe zu haben? Wenn Liebe dir die Augen nicht ſchaͤrft, die
Zuͤge der Tugend, die Ausdruͤcke edler Geſinnungen ſogleich zu bemerken, wie viel tauſend-
mal wirſt du ſie in einem durch dieſen oder jenen Zufall, dieſe oder jene Aeußerlichkeit verun-
ſtalteten Geſicht uͤberſehen? Wenn niedrige Leidenſchaften, wie eine Leibwache um deine See-
le herumſtehen, — wie viele falſche Nachrichten, wie ſchiefe Beobachtungen werden ſie dir
hinterbringen! Feindſchaft, Stolz, Neid, Eigennutz ſeyn fern von dir — oder dein Auge
wird boͤſe, und dein ganzer Leib finſter ſeyn! du wirſt Laſter auf der Stirne leſen, wo Tu-
gend geſchrieben ſteht, und dem andern die Fehler andichten, deren dein eigen Herz dich an-
ſchuldiget! Wer eine Aehnlichkeit mit deinem Feinde hat, der wird alle die Fehler und Laſter
an ſich haben muͤſſen, die deine gekraͤnkte Eigenliebe dem Feinde ſelbſt aufbuͤrdet! die ſchoͤnen
Zuͤge wirſt du uͤberſehen; die ſchlechtern verſtaͤrken, und allenthalben Carrikatur und Unregel-
maͤßigkeit wahrnehmen. —
Haͤtt' ich etwas vom Geiſte jener erhabnen Menſchenkenner, die mit Gottes Gewißheit
Geiſter pruͤften und die Gedanken der Menſchen laſen — ſo wuͤrd' ich, ach! wie viel mehr noch
von dem Herzen der Phyſiognomiſten fordern duͤrfen! Jch eile zum Beſchluß. —
Daß der Phyſiognomiſt Kenner der Welt ſeyn, mit den verſchiedendſten Menſchen in
den verſchiedendſten Angelegenheiten und Verhaͤltniſſen Umgang haben muͤſſe; daß er nicht in
einem Winkel ſeines Hauſes eingeſperrt leben, oder nur ſelten des Umgangs mit den Men-
ſchen, und nur mit gemeinen, nur immer mit einerley Menſchen, pflegen muͤſſe; daß be-
ſonders Reiſen und weitlaͤuftige mannichfaltige Bekanntſchaften, — daß genauer Umgang mit
Kuͤnſtlern, Menſchenkennern, ſehr laſterhaften und ſehr tugendhaften, ſehr weiſen und ſehr
dummen Perſonen, am meiſten aber mit Kindern — daß Literatur und Geſchmack an Mah-
lerey und allen Werken bildender Kuͤnſte, daß dieß und noch vieles andere ihm unentbehr-
lich ſey — wird dieſes eines Beweiſes beduͤrfen? Jch faſſe zuſammen: Der Phyſiognomiſt
verbindet mit einem wohlgebildeten und wohl organiſirten Koͤrper, mit einem feinen Beob-
achtungs-
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