Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.XVI. Fragment. Kinnlade, -- diesen Zügen allen zusammen -- den feinen, tiefsehenden, schnellbeobachtenden Men-schenkenner zu entdecken? Unter diese großen Physiognomisten wird auch Roußeau gezählt. Winkelmann war's vermuthlich in einem außerordentlichen Grade, obgleich er's seinem Anton Raphael Mengs muß es, so viel ich vermuthe, in einem hohen Grade seyn. Eine Unter denen mir bekannten trefflichen Physiognomisten ist einer der ersten, scharfsichtig- den *) S. 78. **) S. 33.
XVI. Fragment. Kinnlade, — dieſen Zuͤgen allen zuſammen — den feinen, tiefſehenden, ſchnellbeobachtenden Men-ſchenkenner zu entdecken? Unter dieſe großen Phyſiognomiſten wird auch Roußeau gezaͤhlt. Winkelmann war's vermuthlich in einem außerordentlichen Grade, obgleich er's ſeinem Anton Raphael Mengs muß es, ſo viel ich vermuthe, in einem hohen Grade ſeyn. Eine Unter denen mir bekannten trefflichen Phyſiognomiſten iſt einer der erſten, ſcharfſichtig- den *) S. 78. **) S. 33.
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XVI. Fragment.
Kinnlade, — dieſen Zuͤgen allen zuſammen — den feinen, tiefſehenden, ſchnellbeobachtenden Men-
ſchenkenner zu entdecken?
Unter dieſe großen Phyſiognomiſten wird auch Roußeau gezaͤhlt.
Winkelmann war's vermuthlich in einem außerordentlichen Grade, obgleich er's ſeinem
Moͤrder nicht anſah.
Anton Raphael Mengs muß es, ſo viel ich vermuthe, in einem hohen Grade ſeyn. Eine
Handſchrift uͤber die Geſichtszuͤge, die ich aber nicht zu ſehen bekommen konnte, iſt in den Haͤnden
eines ſeiner Freunde, eines feinen Kunſtkenners, des Herrn Baron von Edelsheim in Carlsruh.
Wie viel Phyſiognomik ſcheint hin und wieder hervor in ſeinen Gedanken uͤber die Schoͤnheit
und den Geſchmack in der Mahlerey — Er ſagt z. E. von Raphael: „Sein hoher Geiſt
„fuͤhrte ihn weiter bis zur Unterſuchung der Bedeutung jeder Form. Er erkannte dadurch, daß
„gewiſſe Geſichtsſtriche auch gewiſſe Bedeutungen hatten, und insgemein ein gewiſſes Temperament
„mit ſich fuͤhren, ſo auch, daß zu einem ſolchen Geſichte, eine gewiſſe Art Glieder, Haͤnde und Fuͤße
„gehoͤren, dieſe fuͤgte er mit der groͤßten Beſcheidenheit zuſammen.“ *) Dieſe Bemerkung — von
der Homogeneitaͤt des menſchlichen Koͤrpers, wovon wir auch ſchon ein Wort geſprochen, iſt
eine gute Grundlage phyſiognomiſcher Einſicht. Wie viel Phyſiognomik liegt aber in den wenigen
Zeilen in eben dieſem Verſuche: „die gemahlten Menſchen koͤnnen leicht ſchoͤner, als die wahrhafti-
„gen ſeyn. Wo werden wir in einem Menſchen zugleich, die Groͤße der Seele, die Uebereinſtim-
„mung des Leibes, ein tugendhaftes Gemuͤth, und gleichgeuͤbte Glieder finden? Ja nur die voll-
„kommenere Geſundheit und Geneſung, da alle Aemter und Verrichtungen der Menſchen ihn belaͤ-
„ſtigen? Hingegen in der Mahlerey kann dieſes leicht bedeutet werden, wenn man die Einfoͤrmig-
„keit in Umriſſen; die Groͤße in der Geſtalt; die Freyheit in der Stellung; die Schoͤn-
„heit in den Gliedern; die Macht in der Bruſt; die Leichtigkeit in Beinen; die Staͤrke
„in Schultern und Armen bezeichnet. Die Aufrichtigkeit in der Stirn und Augbrau-
„nen; die Vernunft zwiſchen den Augen, die Geſundheit in den Backen, die Lieblich-
„keit in dem Munde bedeutet.“ **) So viel noch uͤber dieſe Stelle anzumerken, hie und da zu
berichtigen, wenigſtens naͤher zu beſtimmen waͤre; ſie zeigt immer deutlich genug einen großen
Phyſiognomiſten.
Unter denen mir bekannten trefflichen Phyſiognomiſten iſt einer der erſten, ſcharfſichtig-
ſten — und dabey menſchenfreundlichſten, der vortreffliche Prinz Ludwig Eugen von Wuͤr-
temberg. Mit einer kaum begreiflichen Sicherheit entdeckt dieſer große Menſchenkenner auf
den
*) S. 78.
**) S. 33.
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