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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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zur Prüfung des physiognomischen Genies.
M.
Ein Kopf nach Le Brün.

Was siehest du in diesem Gesichte? was ist dieser scharfhinschauende Blick? diese Tiefe des Au-
ges, diese Runzeln der Stirne, diese Offenheit des Mundes, dieß Vorhängen des Hauptes? Sie-
hest du nicht -- mitleidreiches Schrecken? scharfes Betrachten und mitleidendes Erforschen
fremder Noth? Wie sprechend ist der äußerste Umriß der Stirn! und welches Menschen ist die
Stirn und die Nase! So schauen, kann's eine kleine gedankenlose leere Seele? welche Kraft ist in
jedem Aufmerken! im Aufmerken theilnehmender Liebe! wie wenigen ist sie gegeben! -- Diese
Stirn ist nicht des Guten aus Schwachheit! der würde sich wenden vom Anblicke des Elendes,
laut jammern, sich verhüllen und -- verschmachten! -- Dieser Kopf könnt' allenfalls Copie eines
raphaelischen seyn? -- Wie entsetzlich muß der Schmerz seyn, der auf dieses kraftvolle Gesicht die-
sen Eindruck, diese Furchen auf Stirn' und Wange pflanzt? --

Nachstehende Vignette stellt den Kopf Saullus vor, da er vernommen den Donner der
Stimme: Jch bin Jesus, den du verfolgest! Ach! wie's ihm so schwer wird, wider den Sta-
chel auszuschlagen!

[Abbildung]

N. Ein
D d 3
zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
M.
Ein Kopf nach Le Bruͤn.

Was ſieheſt du in dieſem Geſichte? was iſt dieſer ſcharfhinſchauende Blick? dieſe Tiefe des Au-
ges, dieſe Runzeln der Stirne, dieſe Offenheit des Mundes, dieß Vorhaͤngen des Hauptes? Sie-
heſt du nicht — mitleidreiches Schrecken? ſcharfes Betrachten und mitleidendes Erforſchen
fremder Noth? Wie ſprechend iſt der aͤußerſte Umriß der Stirn! und welches Menſchen iſt die
Stirn und die Naſe! So ſchauen, kann's eine kleine gedankenloſe leere Seele? welche Kraft iſt in
jedem Aufmerken! im Aufmerken theilnehmender Liebe! wie wenigen iſt ſie gegeben! — Dieſe
Stirn iſt nicht des Guten aus Schwachheit! der wuͤrde ſich wenden vom Anblicke des Elendes,
laut jammern, ſich verhuͤllen und — verſchmachten! — Dieſer Kopf koͤnnt' allenfalls Copie eines
raphaeliſchen ſeyn? — Wie entſetzlich muß der Schmerz ſeyn, der auf dieſes kraftvolle Geſicht die-
ſen Eindruck, dieſe Furchen auf Stirn' und Wange pflanzt? —

Nachſtehende Vignette ſtellt den Kopf Saullus vor, da er vernommen den Donner der
Stimme: Jch bin Jeſus, den du verfolgeſt! Ach! wie's ihm ſo ſchwer wird, wider den Sta-
chel auszuſchlagen!

[Abbildung]

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[205/0297] zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies. M. Ein Kopf nach Le Bruͤn. Was ſieheſt du in dieſem Geſichte? was iſt dieſer ſcharfhinſchauende Blick? dieſe Tiefe des Au- ges, dieſe Runzeln der Stirne, dieſe Offenheit des Mundes, dieß Vorhaͤngen des Hauptes? Sie- heſt du nicht — mitleidreiches Schrecken? ſcharfes Betrachten und mitleidendes Erforſchen fremder Noth? Wie ſprechend iſt der aͤußerſte Umriß der Stirn! und welches Menſchen iſt die Stirn und die Naſe! So ſchauen, kann's eine kleine gedankenloſe leere Seele? welche Kraft iſt in jedem Aufmerken! im Aufmerken theilnehmender Liebe! wie wenigen iſt ſie gegeben! — Dieſe Stirn iſt nicht des Guten aus Schwachheit! der wuͤrde ſich wenden vom Anblicke des Elendes, laut jammern, ſich verhuͤllen und — verſchmachten! — Dieſer Kopf koͤnnt' allenfalls Copie eines raphaeliſchen ſeyn? — Wie entſetzlich muß der Schmerz ſeyn, der auf dieſes kraftvolle Geſicht die- ſen Eindruck, dieſe Furchen auf Stirn' und Wange pflanzt? — Nachſtehende Vignette ſtellt den Kopf Saullus vor, da er vernommen den Donner der Stimme: Jch bin Jeſus, den du verfolgeſt! Ach! wie's ihm ſo ſchwer wird, wider den Sta- chel auszuſchlagen! [Abbildung] N. Ein D d 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/297>, abgerufen am 24.11.2024.