Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.Erstes Fragment. Von der Geringheit meiner physiognomischen Kenntnisse. Es liegt mir gar sehr viel dran, meine Leser nicht mehr von mir erwarten zu lassen, als ich Von ganzer Seele veracht' ich, (Gott und alle, die mich kennen, wissens,) alle Char- Vor allen Dingen also sag' ich, was ich schon oft, was ich bey allen Gelegenheiten gesagt Vielleicht wird es manchem meiner Leser nicht ganz unangenehm seyn, etwas von dem An alles in der Welt dacht' ich wol vor meinem fünf und zwanzigsten Jahr eher, als Phy-
Erſtes Fragment. Von der Geringheit meiner phyſiognomiſchen Kenntniſſe. Es liegt mir gar ſehr viel dran, meine Leſer nicht mehr von mir erwarten zu laſſen, als ich Von ganzer Seele veracht' ich, (Gott und alle, die mich kennen, wiſſens,) alle Char- Vor allen Dingen alſo ſag' ich, was ich ſchon oft, was ich bey allen Gelegenheiten geſagt Vielleicht wird es manchem meiner Leſer nicht ganz unangenehm ſeyn, etwas von dem An alles in der Welt dacht' ich wol vor meinem fuͤnf und zwanzigſten Jahr eher, als Phy-
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Erſtes Fragment.
Von der Geringheit meiner phyſiognomiſchen Kenntniſſe.
Es liegt mir gar ſehr viel dran, meine Leſer nicht mehr von mir erwarten zu laſſen, als ich
ihnen wirklich zu geben im Stande bin. Wer ein großes phyſiognomiſches Werk herausgiebt,
der ſcheint zu verſtehen zu geben, daß er unendlich viel mehr uͤber die Phyſiognomie zu ſagen wiſſe,
als ſeine Zeitgenoſſen. Er ſetzt ſich dem beißendſten Spott aus, wenn ihm einmal ein Fehlur-
theil entrinnt; — und macht ſich wenigſtens bey denen, die ihn nicht leſen, bloß um ſeiner ihm
vielleicht nur angedichteten Praͤtenſionen willen — laͤcherlich.
Von ganzer Seele veracht' ich, (Gott und alle, die mich kennen, wiſſens,) alle Char-
latanerie, alle die laͤcherlichen Praͤtenſionen — von Allwiſſenheit und Unfehlbarkeit, die ſo man-
che Schriftſteller unter tauſend Geſtalten blicken laſſen, und ihren Leſern inſinuiren wollen.
Vor allen Dingen alſo ſag' ich, was ich ſchon oft, was ich bey allen Gelegenheiten geſagt
habe; ob gleich es alle, die uͤber mich und mein Unternehmen urtheilen, ſich und andern zu verheh-
len belieben: „daß ich ſehr wenige phyſiognomiſche Kenntniß beſitze; daß ich mich unzaͤh-
lige male in meinen Urtheilen geirret habe, und noch taͤglich irre“ — Daß aber gerade
eben dieſe Jrrthuͤmer und Fehlſchluͤſſe das natuͤrlichſte und ſicherſte Mittel waren, meine Kennt-
niſſe zu berichtigen, zu befeſtigen, und zu erweitern.
Vielleicht wird es manchem meiner Leſer nicht ganz unangenehm ſeyn, etwas von dem
Gange meines Geiſtes in dieſer Sache zu wiſſen.
An alles in der Welt dacht' ich wol vor meinem fuͤnf und zwanzigſten Jahr eher, als
daran, daß ich je ein Wort uͤber die Phyſiognomie ſchreiben, daß ich nur die mindeſte Nachfor-
ſchung druͤber anſtellen wollte. Es fiel mir gar nicht ein, nur ein phyſiognomiſches Buch zu le-
ſen, oder die mindeſten Beobachtungen zu machen, vielweniger zu ſammeln. — Die aͤußerſte Em-
pfindlichkeit meiner Nerven ward indeß bisweilen von gewiſſen Menſchengeſichtern das erſtemal,
da ich ſie ſahe, ſolchergeſtalt in Bewegung geſetzt, daß die Erſchuͤtterung lange noch fortdauerte,
nachdem ſie weg waren, ohne daß ich wußte, warum? Ohne daß ich auch nur weiter an ihre
Phy-
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