Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.zur Prüfung des physiognomischen Genies. wenn von dem hintern Ende des Mundes theils an dem Rande der Oberlippe ein bis zur Hälftevorwärtsgehender, zarter, sich verlierender Schatten, und hinten an der Unterlippe von der Mit- tellinie an ebenfalls ein kürzerer festerer Schatten angebracht wäre. Denn wirklich hat hierinn der Zeichner gefehlt. Vermuthungen. Man setze, daß die Stirne nicht so zurückgienge, daß sie mit dem Contour des Unter- Setzet weiter, daß die untere Lippe weit unter der obern vorgienge -- schief vorgienge -- Nehmt alle die sichtbaren Muskeln an der Backe weg, spannt die Haut an; laßt sie zä- Setzet das Auge nur ein wenig tiefer gegen die Schläfe zurück; nur eine wenig tiefere Jch könnte diese Vermuthungen, auch nur in Rücksicht auf das gegenwärtige Bild sehr heiße Phys. Fragm. I. Versuch. F f
zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies. wenn von dem hintern Ende des Mundes theils an dem Rande der Oberlippe ein bis zur Haͤlftevorwaͤrtsgehender, zarter, ſich verlierender Schatten, und hinten an der Unterlippe von der Mit- tellinie an ebenfalls ein kuͤrzerer feſterer Schatten angebracht waͤre. Denn wirklich hat hierinn der Zeichner gefehlt. Vermuthungen. Man ſetze, daß die Stirne nicht ſo zuruͤckgienge, daß ſie mit dem Contour des Unter- Setzet weiter, daß die untere Lippe weit unter der obern vorgienge — ſchief vorgienge — Nehmt alle die ſichtbaren Muskeln an der Backe weg, ſpannt die Haut an; laßt ſie zaͤ- Setzet das Auge nur ein wenig tiefer gegen die Schlaͤfe zuruͤck; nur eine wenig tiefere Jch koͤnnte dieſe Vermuthungen, auch nur in Ruͤckſicht auf das gegenwaͤrtige Bild ſehr heiße Phyſ. Fragm. I. Verſuch. F f
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zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
wenn von dem hintern Ende des Mundes theils an dem Rande der Oberlippe ein bis zur Haͤlfte
vorwaͤrtsgehender, zarter, ſich verlierender Schatten, und hinten an der Unterlippe von der Mit-
tellinie an ebenfalls ein kuͤrzerer feſterer Schatten angebracht waͤre. Denn wirklich hat hierinn
der Zeichner gefehlt.
Vermuthungen.
Man ſetze, daß die Stirne nicht ſo zuruͤckgienge, daß ſie mit dem Contour des Unter-
theils des Geſichtes unter der Naſe perpendiculaͤrer liefe, — daß die Endung der Stirne bey
der Naſe weniger ſtumpf und gewoͤlbt, ſondern ſpitziger, ſchaͤrfer, knochigter waͤre — wuͤrde
die Guͤte, die Sanftheit des Characters, die Schwaͤche, wenn ihr wollt, nicht verlieren — und
Eigenſinn und Staͤrke gewinnen? — wuͤrdet ihr, wenn dann beyde Geſichter, das itzige, und
das alſo veraͤnderte, neben einander geſtellt wuͤrden, nicht das itzige dem veraͤnderten, in Anſehung
der Guͤte vorziehen? Kuͤnftige Tafeln werden dieſe Anmerkung beſtaͤtigen.
Setzet weiter, daß die untere Lippe weit unter der obern vorgienge — ſchief vorgienge —
daß der Einſchnitt mitten am Kinn ſich in ein Stuͤck von einem Zirkel verwandelte — oder daß
die horizontale Lage des Mundes ſo veraͤndert wuͤrde, daß das Ende hoͤher, oder tiefer ſtuͤnde,
als der Punkt, wo ſich vornen die Lippen ſchließen — wuͤrdet ihr auch noch denſelben ſanften, gu-
ten und heitern Mann vor Euch ſehen? —
Nehmt alle die ſichtbaren Muskeln an der Backe weg, ſpannt die Haut an; laßt ſie zaͤ-
her, feſter, einfacher, platter ins Auge fallen — wird nicht dieſes ſchon wieder einen haͤrtern, fe-
ſtern, weniger empfindſamen Character darſtellen?
Setzet das Auge nur ein wenig tiefer gegen die Schlaͤfe zuruͤck; nur eine wenig tiefere
Hoͤhlung gegen die Naſe, laßt die gegen das Ende herabgehende Linie, an welcher die Haare
ſtehn, horizontaler laufen — werdet ihr nicht ſo gleich einen tiefer denkenden, ſcharfſichtigern, feu-
rigern, kuͤhnern Mann, ein mehr ſchoͤpferiſches Genie vor Euch ſehn?
Jch koͤnnte dieſe Vermuthungen, auch nur in Ruͤckſicht auf das gegenwaͤrtige Bild ſehr
vermehren; — aber ich will lieber wenig ſagen, und meinen Leſer viel denken laſſen — Jch
heiße
Phyſ. Fragm. I. Verſuch. F f
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