Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.XVII. Fragment. Physiognomische Uebungen Z. Michel Schüppach. Einen Mann, von dem so viel Sagens im Land ist, öffentlich zu beurtheilen, ist wohl das Der Mann, den wir hier sehen, hat gewiß nie keinen Plan entworfen, das zu werden, Die Augenbraunen sind nicht haarreich, und nicht angestrengt! Dieß harmonirt sehr mit Diese ganze Miene sucht nicht; sie nimmt nur mit stiller Ruh an! Die Stirne, so wie sie hier zum Vorschein kömmt, ist so gemein, so uncharacteristisch, Mir gefällt auch der breitliche, beynahe parallele Rücken der sonst nichts weniger als Die beynahe horizontale Mittellinie des Mundes zeigt mehr Redlichkeit als Schalkheit an. Die Ober- und Unterlippe sind zu unbestimmt, als daß sich vieles drüber sagen ließe. Der
XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen Z. Michel Schuͤppach. Einen Mann, von dem ſo viel Sagens im Land iſt, oͤffentlich zu beurtheilen, iſt wohl das Der Mann, den wir hier ſehen, hat gewiß nie keinen Plan entworfen, das zu werden, Die Augenbraunen ſind nicht haarreich, und nicht angeſtrengt! Dieß harmonirt ſehr mit Dieſe ganze Miene ſucht nicht; ſie nimmt nur mit ſtiller Ruh an! Die Stirne, ſo wie ſie hier zum Vorſchein koͤmmt, iſt ſo gemein, ſo uncharacteriſtiſch, Mir gefaͤllt auch der breitliche, beynahe parallele Ruͤcken der ſonſt nichts weniger als Die beynahe horizontale Mittellinie des Mundes zeigt mehr Redlichkeit als Schalkheit an. Die Ober- und Unterlippe ſind zu unbeſtimmt, als daß ſich vieles druͤber ſagen ließe. Der
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XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
Z.
Michel Schuͤppach.
Einen Mann, von dem ſo viel Sagens im Land iſt, oͤffentlich zu beurtheilen, iſt wohl das
ſchwerſte Unternehmen von der Welt. Doch, ich beurtheile nicht den Mann, denn ich kenn ihn
nicht, ſondern ſein Bild; und dieß ſoll nicht ſeinen ganzen Geiſt ausdruͤcken; doch, welches
Bild thut's? Des geiſtreichſten Mannes geiſtreichſtes Bild, wie viel unaͤhnlicher immer, als des
Thoren thoͤrichtes — alſo ein Woͤrtchen uͤber das Bild, das wir vor uns haben.
Der Mann, den wir hier ſehen, hat gewiß nie keinen Plan entworfen, das zu werden,
was er worden iſt; der hat gewiß nicht gedacht — beruͤhmt, und durch ſeinen Ruhm reich zu wer-
den. Kleinſuͤchtiges, aͤngſtlich Geiziges iſt nichts in dieſem Geſichte! Nichts Verzogenes, Schie-
fes, das Euch Argwohn in ſeine Abſichten einfloͤßte — auch ſieht der Euch gewiß nicht, wie ein
Dummkopf an. Dieſes gerade, offne, leicht und ungezwungen vor ſich hinſchauende, helle, ruhige
Auge — lieſt — in euerm Geſichte mehr, als in eurem — Waſſer! Feinheit ohne krumme
Argliſt — ſpricht aus dem Auge, das ſo ganz Aug iſt! Keine Vielfachheit in dieſem Blicke!
Kein ſtreitendes Jntereſſe! Es iſt auch nicht das Auge eines tiefen Forſchers, eines heiſſen hart-
naͤckigen Verfolgers ſeiner Jdeen! Es ſchaut ſo in ſeiner Einfalt hin — ſchaut einen halben Zoll
tief unter die Oberflaͤche — und ſieht nur Eins —
Die Augenbraunen ſind nicht haarreich, und nicht angeſtrengt! Dieß harmonirt ſehr mit
der betrachtenden Ruhe, des in ſich ſatten, in ſich unerſchuͤtterlichen Beobachters.
Dieſe ganze Miene ſucht nicht; ſie nimmt nur mit ſtiller Ruh an!
Die Stirne, ſo wie ſie hier zum Vorſchein koͤmmt, iſt ſo gemein, ſo uncharacteriſtiſch,
wie moͤglich. Das einzige, was mir daran gefaͤllt, mit dem ganzen Geſichte harmonirt, iſt ihre
Ruhe und Heiterkeit.
Mir gefaͤllt auch der breitliche, beynahe parallele Ruͤcken der ſonſt nichts weniger als
großſprechenden, unternehmenden, Naſe.
Die beynahe horizontale Mittellinie des Mundes zeigt mehr Redlichkeit als Schalkheit an.
Die Ober- und Unterlippe ſind zu unbeſtimmt, als daß ſich vieles druͤber ſagen ließe.
Doch ſind ſie weder dumm noch boͤſe.
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