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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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zur Prüfung des physiognomischen Genies.

Und nun auch ein paar Worte über seine Physiognomie und sein Porträt! Hirzel sagt
von ihm: "Seine feurigen Augen lachen beständig aus seinem röthlichen gesunden Gesichte, und
"entdecken jeden Kenner der Gesichtszüge bey dem ersten Anblicke die Schönheit seiner Seele!" *)
Blos feurige Augen sind eigentlich niemals ein Zeichen einer schönen Seele; lichtvolle, leuchten-
de Augen, sollt's ohne Zweifel heißen. Und solche hat Kleinjogg. Nicht tief, nicht hervorste-
hend, nicht halb verschlossen, nicht aufgesperret, -- so aufgesperrt nicht, wie in unserm Porträt. --
Seine schwarzen gebognen Augenbraunen unter einer weder geraden, noch schiefen, noch zu stark
gebognen, weder hohen noch niedern Stirne kleiden ihn trefflich! -- Seine Nase ist äußerst fein,
und vergröbert sich in allen Zeichnungen. Sie scheint mir im Originale etwas spitzer und zärter.
Die wahrhaftig fürstlichen Prinzessinnen vom Darmstadt, die von der heitern, offnen Natürlich-
keit unsers lieben Mannes äußerst gerührt waren, versicherten, daß sie der Nase ihrer verstorbnen
hochseligen Frau Mutter ähnlich wäre -- und ich weiß nicht, ob das der trefflichen Prinzessinn oder
dem Kleinjogg mehr Ehre macht. Bey dieser Gelegenheit muß ich meinen Lesern zum voraus sa-
gen, daß, man mag sagen, was man will, und lachen, wie man will -- unzähligen Beobachtun-
gen zufolge, die Nase auch an sich betrachtet, und ohne alle Rücksicht auf den übrigen Theil des
Gesichtes eines der wichtigsten, der entscheidendsten, sensibelsten, und zugleich unverstellbarsten
Theile des menschlichen Angesichts ist. --

Jch komm auf Kleinjoggen zurück. Sein unnachahmlicher Mund auch in diesem ziem-
lich harten Porträt, -- wie sprechend ist er dennoch in seiner edlen Ruhe! Wie ist Unschuld und
Güte, Klugheit und Entschlossenheit so glücklich darinn ausgedrückt!

Ausnehmend gefällt mir auch das Kinn. So viel Männlichkeit ohne Härte! So viel
Verstand ohne Schlauigkeit! So nichts von Weichlichkeit und Verzärtelung -- -- Nur ge-
winnen, nicht verlieren kann Kleinjogg bey einem gesunden physiognomischen Auge! Alle Falten
und Schattierungen seiner Backen geben seinem Gesichte den zusammenstimmenden Ausdruck der
Gesetztheit, Mäßigkeit, Festigkeit, Gemüthsruhe!

Auch stimmt das Ohr mit seiner bestimmten Zeichnung, seiner Rundung, seinen Umris-
sen allen mit ein.

Ein Fehler in diesem Bilde, der schwer zu finden, und dennoch wichtig ist, muß wohl
im äußersten Umrisse des Profils liegen. Jch denke, der Umriß unsers Bildes ist im Ganzen
genommen, zu perpendikulär, zu wenig gebogen, und um etwas zu gedehnt, oder zu gespannt.

Auch
*) Hirzel. S. 143. der neuesten Ausgabe.
H h 3
zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.

Und nun auch ein paar Worte uͤber ſeine Phyſiognomie und ſein Portraͤt! Hirzel ſagt
von ihm: „Seine feurigen Augen lachen beſtaͤndig aus ſeinem roͤthlichen geſunden Geſichte, und
„entdecken jeden Kenner der Geſichtszuͤge bey dem erſten Anblicke die Schoͤnheit ſeiner Seele!“ *)
Blos feurige Augen ſind eigentlich niemals ein Zeichen einer ſchoͤnen Seele; lichtvolle, leuchten-
de Augen, ſollt's ohne Zweifel heißen. Und ſolche hat Kleinjogg. Nicht tief, nicht hervorſte-
hend, nicht halb verſchloſſen, nicht aufgeſperret, — ſo aufgeſperrt nicht, wie in unſerm Portraͤt. —
Seine ſchwarzen gebognen Augenbraunen unter einer weder geraden, noch ſchiefen, noch zu ſtark
gebognen, weder hohen noch niedern Stirne kleiden ihn trefflich! — Seine Naſe iſt aͤußerſt fein,
und vergroͤbert ſich in allen Zeichnungen. Sie ſcheint mir im Originale etwas ſpitzer und zaͤrter.
Die wahrhaftig fuͤrſtlichen Prinzeſſinnen vom Darmſtadt, die von der heitern, offnen Natuͤrlich-
keit unſers lieben Mannes aͤußerſt geruͤhrt waren, verſicherten, daß ſie der Naſe ihrer verſtorbnen
hochſeligen Frau Mutter aͤhnlich waͤre — und ich weiß nicht, ob das der trefflichen Prinzeſſinn oder
dem Kleinjogg mehr Ehre macht. Bey dieſer Gelegenheit muß ich meinen Leſern zum voraus ſa-
gen, daß, man mag ſagen, was man will, und lachen, wie man will — unzaͤhligen Beobachtun-
gen zufolge, die Naſe auch an ſich betrachtet, und ohne alle Ruͤckſicht auf den uͤbrigen Theil des
Geſichtes eines der wichtigſten, der entſcheidendſten, ſenſibelſten, und zugleich unverſtellbarſten
Theile des menſchlichen Angeſichts iſt. —

Jch komm auf Kleinjoggen zuruͤck. Sein unnachahmlicher Mund auch in dieſem ziem-
lich harten Portraͤt, — wie ſprechend iſt er dennoch in ſeiner edlen Ruhe! Wie iſt Unſchuld und
Guͤte, Klugheit und Entſchloſſenheit ſo gluͤcklich darinn ausgedruͤckt!

Ausnehmend gefaͤllt mir auch das Kinn. So viel Maͤnnlichkeit ohne Haͤrte! So viel
Verſtand ohne Schlauigkeit! So nichts von Weichlichkeit und Verzaͤrtelung — — Nur ge-
winnen, nicht verlieren kann Kleinjogg bey einem geſunden phyſiognomiſchen Auge! Alle Falten
und Schattierungen ſeiner Backen geben ſeinem Geſichte den zuſammenſtimmenden Ausdruck der
Geſetztheit, Maͤßigkeit, Feſtigkeit, Gemuͤthsruhe!

Auch ſtimmt das Ohr mit ſeiner beſtimmten Zeichnung, ſeiner Rundung, ſeinen Umriſ-
ſen allen mit ein.

Ein Fehler in dieſem Bilde, der ſchwer zu finden, und dennoch wichtig iſt, muß wohl
im aͤußerſten Umriſſe des Profils liegen. Jch denke, der Umriß unſers Bildes iſt im Ganzen
genommen, zu perpendikulaͤr, zu wenig gebogen, und um etwas zu gedehnt, oder zu geſpannt.

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[237/0359] zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies. Und nun auch ein paar Worte uͤber ſeine Phyſiognomie und ſein Portraͤt! Hirzel ſagt von ihm: „Seine feurigen Augen lachen beſtaͤndig aus ſeinem roͤthlichen geſunden Geſichte, und „entdecken jeden Kenner der Geſichtszuͤge bey dem erſten Anblicke die Schoͤnheit ſeiner Seele!“ *) Blos feurige Augen ſind eigentlich niemals ein Zeichen einer ſchoͤnen Seele; lichtvolle, leuchten- de Augen, ſollt's ohne Zweifel heißen. Und ſolche hat Kleinjogg. Nicht tief, nicht hervorſte- hend, nicht halb verſchloſſen, nicht aufgeſperret, — ſo aufgeſperrt nicht, wie in unſerm Portraͤt. — Seine ſchwarzen gebognen Augenbraunen unter einer weder geraden, noch ſchiefen, noch zu ſtark gebognen, weder hohen noch niedern Stirne kleiden ihn trefflich! — Seine Naſe iſt aͤußerſt fein, und vergroͤbert ſich in allen Zeichnungen. Sie ſcheint mir im Originale etwas ſpitzer und zaͤrter. Die wahrhaftig fuͤrſtlichen Prinzeſſinnen vom Darmſtadt, die von der heitern, offnen Natuͤrlich- keit unſers lieben Mannes aͤußerſt geruͤhrt waren, verſicherten, daß ſie der Naſe ihrer verſtorbnen hochſeligen Frau Mutter aͤhnlich waͤre — und ich weiß nicht, ob das der trefflichen Prinzeſſinn oder dem Kleinjogg mehr Ehre macht. Bey dieſer Gelegenheit muß ich meinen Leſern zum voraus ſa- gen, daß, man mag ſagen, was man will, und lachen, wie man will — unzaͤhligen Beobachtun- gen zufolge, die Naſe auch an ſich betrachtet, und ohne alle Ruͤckſicht auf den uͤbrigen Theil des Geſichtes eines der wichtigſten, der entſcheidendſten, ſenſibelſten, und zugleich unverſtellbarſten Theile des menſchlichen Angeſichts iſt. — Jch komm auf Kleinjoggen zuruͤck. Sein unnachahmlicher Mund auch in dieſem ziem- lich harten Portraͤt, — wie ſprechend iſt er dennoch in ſeiner edlen Ruhe! Wie iſt Unſchuld und Guͤte, Klugheit und Entſchloſſenheit ſo gluͤcklich darinn ausgedruͤckt! Ausnehmend gefaͤllt mir auch das Kinn. So viel Maͤnnlichkeit ohne Haͤrte! So viel Verſtand ohne Schlauigkeit! So nichts von Weichlichkeit und Verzaͤrtelung — — Nur ge- winnen, nicht verlieren kann Kleinjogg bey einem geſunden phyſiognomiſchen Auge! Alle Falten und Schattierungen ſeiner Backen geben ſeinem Geſichte den zuſammenſtimmenden Ausdruck der Geſetztheit, Maͤßigkeit, Feſtigkeit, Gemuͤthsruhe! Auch ſtimmt das Ohr mit ſeiner beſtimmten Zeichnung, ſeiner Rundung, ſeinen Umriſ- ſen allen mit ein. Ein Fehler in dieſem Bilde, der ſchwer zu finden, und dennoch wichtig iſt, muß wohl im aͤußerſten Umriſſe des Profils liegen. Jch denke, der Umriß unſers Bildes iſt im Ganzen genommen, zu perpendikulaͤr, zu wenig gebogen, und um etwas zu gedehnt, oder zu geſpannt. Auch *) Hirzel. S. 143. der neueſten Ausgabe. H h 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/359>, abgerufen am 22.11.2024.