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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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zur Prüfung des physiognomischen Genies.
"leitung und ohne einen Schatten von gelehrter Erziehung geworden ist. Die redlichste
"Seele
unter der Sonne; zum Erstaunen einfältig, in Dingen des gemeinen Lebens: Sanft
"gegen seine Beleidiger; sanft wie ein Engel gegen alle Menschen, die ihn betrogen, auch ge-
"gen die unaussprechlich sanft, die ihn bestohlen haben. Ruhig und heiter an eben dem Tage,
"da ihm alle sein Silber aus dem Hause geraubt worden; zu ehrlich, um sein Handwerk
"ohne Schaden ferner treiben zu können; und itzt allein beschäfftigt, junge Leute beyderley Ge-
"schlechtes auf die edelste, uneigennützigste Weise in der Physik und Mathematik zu unter-
"richten."

Und nun, edler Leser, dessen Herz sich erweitert, wenn du unter dem betrüglichen
und verkehrten Geschlechte der Menschen von einem ehrlichen uneigennützigen Manne hörest,
nun komm und siehe dieß Schattenbild an! Siehst du den tiefen, forschenden, geduldigen,
hellen, festen Verstand nicht in dieser a) so zurückgehenden -- b) so gebogenen c) über
den Augen so scharf hervorstehenden Stirne? -- und die Heiterkeit und Redlichkeit der
Seele, siehst du sie nicht schweben um die sanft verschloßnen Lippen, die so gar nichts
prätendiren?

Jch bitte dich -- präge dieß Bild in deine Einbildungskraft ein, und vergleiche dein
Schattenbild oft mit diesem scharfdenkenden, diesem edelbescheidnen Umrisse -- und der Stolz
wird dir vergehen oder wenigstens in diesem Augenblick unerträglich vorkommen.

4.

Vermuthlich kennst du diese Silhouette? Jch kann dir's kaum verhelen! Sie ist mir
gar zu lieb! gar zu sprechend! .... Kannst du sagen, kannst du einen Augenblick anstehen,
ob du sagen wollest: "Vielleicht ein Dummkopf! Eine rohe geschmacklose Seele!" Der so
was sagen könnte, ertragen könnte, daß ein anderer es sagte, der schließe mein Buch zu, werf'
es von sich -- und erlaube mir, meinen Gedanken zu verwehren, daß ich nicht über ihn ur-
theile! Jch weide mich an diesem Umrisse! Mein Blick wälzt sich von diesem herrlichen Bogen
der Stirne auf den scharfen Knochen des Auges herab .... Jn dieser Tiefe des Auges sitzt

eine
J i 2

zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
„leitung und ohne einen Schatten von gelehrter Erziehung geworden iſt. Die redlichſte
„Seele
unter der Sonne; zum Erſtaunen einfaͤltig, in Dingen des gemeinen Lebens: Sanft
„gegen ſeine Beleidiger; ſanft wie ein Engel gegen alle Menſchen, die ihn betrogen, auch ge-
„gen die unausſprechlich ſanft, die ihn beſtohlen haben. Ruhig und heiter an eben dem Tage,
„da ihm alle ſein Silber aus dem Hauſe geraubt worden; zu ehrlich, um ſein Handwerk
„ohne Schaden ferner treiben zu koͤnnen; und itzt allein beſchaͤfftigt, junge Leute beyderley Ge-
„ſchlechtes auf die edelſte, uneigennuͤtzigſte Weiſe in der Phyſik und Mathematik zu unter-
„richten.“

Und nun, edler Leſer, deſſen Herz ſich erweitert, wenn du unter dem betruͤglichen
und verkehrten Geſchlechte der Menſchen von einem ehrlichen uneigennuͤtzigen Manne hoͤreſt,
nun komm und ſiehe dieß Schattenbild an! Siehſt du den tiefen, forſchenden, geduldigen,
hellen, feſten Verſtand nicht in dieſer a) ſo zuruͤckgehenden — b) ſo gebogenen c) uͤber
den Augen ſo ſcharf hervorſtehenden Stirne? — und die Heiterkeit und Redlichkeit der
Seele, ſiehſt du ſie nicht ſchweben um die ſanft verſchloßnen Lippen, die ſo gar nichts
praͤtendiren?

Jch bitte dich — praͤge dieß Bild in deine Einbildungskraft ein, und vergleiche dein
Schattenbild oft mit dieſem ſcharfdenkenden, dieſem edelbeſcheidnen Umriſſe — und der Stolz
wird dir vergehen oder wenigſtens in dieſem Augenblick unertraͤglich vorkommen.

4.

Vermuthlich kennſt du dieſe Silhouette? Jch kann dir's kaum verhelen! Sie iſt mir
gar zu lieb! gar zu ſprechend! .... Kannſt du ſagen, kannſt du einen Augenblick anſtehen,
ob du ſagen wolleſt: „Vielleicht ein Dummkopf! Eine rohe geſchmackloſe Seele!“ Der ſo
was ſagen koͤnnte, ertragen koͤnnte, daß ein anderer es ſagte, der ſchließe mein Buch zu, werf'
es von ſich — und erlaube mir, meinen Gedanken zu verwehren, daß ich nicht uͤber ihn ur-
theile! Jch weide mich an dieſem Umriſſe! Mein Blick waͤlzt ſich von dieſem herrlichen Bogen
der Stirne auf den ſcharfen Knochen des Auges herab .... Jn dieſer Tiefe des Auges ſitzt

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[243/0369] zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies. „leitung und ohne einen Schatten von gelehrter Erziehung geworden iſt. Die redlichſte „Seele unter der Sonne; zum Erſtaunen einfaͤltig, in Dingen des gemeinen Lebens: Sanft „gegen ſeine Beleidiger; ſanft wie ein Engel gegen alle Menſchen, die ihn betrogen, auch ge- „gen die unausſprechlich ſanft, die ihn beſtohlen haben. Ruhig und heiter an eben dem Tage, „da ihm alle ſein Silber aus dem Hauſe geraubt worden; zu ehrlich, um ſein Handwerk „ohne Schaden ferner treiben zu koͤnnen; und itzt allein beſchaͤfftigt, junge Leute beyderley Ge- „ſchlechtes auf die edelſte, uneigennuͤtzigſte Weiſe in der Phyſik und Mathematik zu unter- „richten.“ Und nun, edler Leſer, deſſen Herz ſich erweitert, wenn du unter dem betruͤglichen und verkehrten Geſchlechte der Menſchen von einem ehrlichen uneigennuͤtzigen Manne hoͤreſt, nun komm und ſiehe dieß Schattenbild an! Siehſt du den tiefen, forſchenden, geduldigen, hellen, feſten Verſtand nicht in dieſer a) ſo zuruͤckgehenden — b) ſo gebogenen c) uͤber den Augen ſo ſcharf hervorſtehenden Stirne? — und die Heiterkeit und Redlichkeit der Seele, ſiehſt du ſie nicht ſchweben um die ſanft verſchloßnen Lippen, die ſo gar nichts praͤtendiren? Jch bitte dich — praͤge dieß Bild in deine Einbildungskraft ein, und vergleiche dein Schattenbild oft mit dieſem ſcharfdenkenden, dieſem edelbeſcheidnen Umriſſe — und der Stolz wird dir vergehen oder wenigſtens in dieſem Augenblick unertraͤglich vorkommen. 4. Vermuthlich kennſt du dieſe Silhouette? Jch kann dir's kaum verhelen! Sie iſt mir gar zu lieb! gar zu ſprechend! .... Kannſt du ſagen, kannſt du einen Augenblick anſtehen, ob du ſagen wolleſt: „Vielleicht ein Dummkopf! Eine rohe geſchmackloſe Seele!“ Der ſo was ſagen koͤnnte, ertragen koͤnnte, daß ein anderer es ſagte, der ſchließe mein Buch zu, werf' es von ſich — und erlaube mir, meinen Gedanken zu verwehren, daß ich nicht uͤber ihn ur- theile! Jch weide mich an dieſem Umriſſe! Mein Blick waͤlzt ſich von dieſem herrlichen Bogen der Stirne auf den ſcharfen Knochen des Auges herab .... Jn dieſer Tiefe des Auges ſitzt eine J i 2

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/369>, abgerufen am 22.11.2024.