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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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Zweytes Fragment.
Von der Physiognomik.

Da dieses Wort so oft in dieser Schrift vorkömmt, so muß ich vor allen Dingen sagen, was ich
darunter verstehe: Nämlich -- die Fertigkeit durch das Aeußerliche eines Menschen sein
Jnnres zu erkennen;
das, was nicht unmittelbar in die Sinne fällt, vermittelst irgend eines
natürlichen Ausdrucks wahrzunehmen. Jn so fern ich von der Physiognomik als einer Wissen-
schaft rede -- begreif' ich unter Physiognomie alle unmittelbaren Aeußerungen des Menschen.
Alle Züge, Umrisse, alle passive und active Bewegungen, alle Lagen und Stellungen des mensch-
lichen Körpers; alles, wodurch der leidende oder handelnde Mensch unmittelbar bemerkt werden
kann, wodurch er seine Person zeigt -- ist der Gegenstand der Physiognomik.

Jm weitesten Verstand ist mir menschliche Physiognomie -- das Aeußere, die Ober-
fläche
des Menschen in Ruhe oder Bewegung, sey's nun im Urbild oder irgend einem Nachbilde.
Physiognomik, das Wissen, die Kenntnisse des Verhältnisses des Aeußern mit dem Jnnern;
der sichtbaren Oberfläche mit dem unsichtbaren Jnnhalt; dessen was sichtbar und wahrnehmlich
belebt wird, mit dem, was unsichtbar und unwahrnehmlich belebt; der sichtbaren Wirkung
zu der unsichtbaren Kraft.

Jm engern Verstand ist Physiognomie die Gesichtsbildung, und Physiognomik
Kenntniß der Gesichtszüge und ihrer Bedeutung.

Da nun der Mensch so verschiedene Seiten hat, deren jede sich besonders beobach-
ten und beurtheilen läßt, so entstehen daher so vielerley Physiognomien -- so mancherley
Physiognomik.

Man kann zum Exempel die Bildung des Menschen insbesondere betrachten -- die
Proportion, den Umriß, die Harmonie seiner Gliedmaßen, seine Gestalt -- nach einem gewissen
Jdeal von Ebenmaß, Schönheit, Vollkommenheit -- Und die Fertigkeit, diese richtig zu beur-
theilen, und mit diesem Urtheil das Urtheil über seinen Hauptcharacter zu verbinden -- Funda-

mental-
C 3
Zweytes Fragment.
Von der Phyſiognomik.

Da dieſes Wort ſo oft in dieſer Schrift vorkoͤmmt, ſo muß ich vor allen Dingen ſagen, was ich
darunter verſtehe: Naͤmlich — die Fertigkeit durch das Aeußerliche eines Menſchen ſein
Jnnres zu erkennen;
das, was nicht unmittelbar in die Sinne faͤllt, vermittelſt irgend eines
natuͤrlichen Ausdrucks wahrzunehmen. Jn ſo fern ich von der Phyſiognomik als einer Wiſſen-
ſchaft rede — begreif' ich unter Phyſiognomie alle unmittelbaren Aeußerungen des Menſchen.
Alle Zuͤge, Umriſſe, alle paſſive und active Bewegungen, alle Lagen und Stellungen des menſch-
lichen Koͤrpers; alles, wodurch der leidende oder handelnde Menſch unmittelbar bemerkt werden
kann, wodurch er ſeine Perſon zeigt — iſt der Gegenſtand der Phyſiognomik.

Jm weiteſten Verſtand iſt mir menſchliche Phyſiognomie — das Aeußere, die Ober-
flaͤche
des Menſchen in Ruhe oder Bewegung, ſey's nun im Urbild oder irgend einem Nachbilde.
Phyſiognomik, das Wiſſen, die Kenntniſſe des Verhaͤltniſſes des Aeußern mit dem Jnnern;
der ſichtbaren Oberflaͤche mit dem unſichtbaren Jnnhalt; deſſen was ſichtbar und wahrnehmlich
belebt wird, mit dem, was unſichtbar und unwahrnehmlich belebt; der ſichtbaren Wirkung
zu der unſichtbaren Kraft.

Jm engern Verſtand iſt Phyſiognomie die Geſichtsbildung, und Phyſiognomik
Kenntniß der Geſichtszuͤge und ihrer Bedeutung.

Da nun der Menſch ſo verſchiedene Seiten hat, deren jede ſich beſonders beobach-
ten und beurtheilen laͤßt, ſo entſtehen daher ſo vielerley Phyſiognomien — ſo mancherley
Phyſiognomik.

Man kann zum Exempel die Bildung des Menſchen insbeſondere betrachten — die
Proportion, den Umriß, die Harmonie ſeiner Gliedmaßen, ſeine Geſtalt — nach einem gewiſſen
Jdeal von Ebenmaß, Schoͤnheit, Vollkommenheit — Und die Fertigkeit, dieſe richtig zu beur-
theilen, und mit dieſem Urtheil das Urtheil uͤber ſeinen Hauptcharacter zu verbinden — Funda-

mental-
C 3
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[13/0037] Zweytes Fragment. Von der Phyſiognomik. Da dieſes Wort ſo oft in dieſer Schrift vorkoͤmmt, ſo muß ich vor allen Dingen ſagen, was ich darunter verſtehe: Naͤmlich — die Fertigkeit durch das Aeußerliche eines Menſchen ſein Jnnres zu erkennen; das, was nicht unmittelbar in die Sinne faͤllt, vermittelſt irgend eines natuͤrlichen Ausdrucks wahrzunehmen. Jn ſo fern ich von der Phyſiognomik als einer Wiſſen- ſchaft rede — begreif' ich unter Phyſiognomie alle unmittelbaren Aeußerungen des Menſchen. Alle Zuͤge, Umriſſe, alle paſſive und active Bewegungen, alle Lagen und Stellungen des menſch- lichen Koͤrpers; alles, wodurch der leidende oder handelnde Menſch unmittelbar bemerkt werden kann, wodurch er ſeine Perſon zeigt — iſt der Gegenſtand der Phyſiognomik. Jm weiteſten Verſtand iſt mir menſchliche Phyſiognomie — das Aeußere, die Ober- flaͤche des Menſchen in Ruhe oder Bewegung, ſey's nun im Urbild oder irgend einem Nachbilde. Phyſiognomik, das Wiſſen, die Kenntniſſe des Verhaͤltniſſes des Aeußern mit dem Jnnern; der ſichtbaren Oberflaͤche mit dem unſichtbaren Jnnhalt; deſſen was ſichtbar und wahrnehmlich belebt wird, mit dem, was unſichtbar und unwahrnehmlich belebt; der ſichtbaren Wirkung zu der unſichtbaren Kraft. Jm engern Verſtand iſt Phyſiognomie die Geſichtsbildung, und Phyſiognomik Kenntniß der Geſichtszuͤge und ihrer Bedeutung. Da nun der Menſch ſo verſchiedene Seiten hat, deren jede ſich beſonders beobach- ten und beurtheilen laͤßt, ſo entſtehen daher ſo vielerley Phyſiognomien — ſo mancherley Phyſiognomik. Man kann zum Exempel die Bildung des Menſchen insbeſondere betrachten — die Proportion, den Umriß, die Harmonie ſeiner Gliedmaßen, ſeine Geſtalt — nach einem gewiſſen Jdeal von Ebenmaß, Schoͤnheit, Vollkommenheit — Und die Fertigkeit, dieſe richtig zu beur- theilen, und mit dieſem Urtheil das Urtheil uͤber ſeinen Hauptcharacter zu verbinden — Funda- mental- C 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/37>, abgerufen am 21.11.2024.