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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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zur Prüfung des physiognomischen Genies.
II.
Einige Umrisse von Künstlern.

Der Umriß auf dem nächsten Blatte ist von einem Augsburgischen Mahler Schaupp, der
zweyte von Blendinger, der erste auf dem folgenden dritten Blatte von Frey, einem trefflichen
Kupferstecher, der zweyte und dritte auf demselben Blatte von Ridinger, einem überausgeschick-
ten Thiermahler -- das vierte Blatt enthält zween Dinglinger und zween Kupezky; das
fünfte zween Umrisse von Wreen, dem Erbauer der Paullus- und der Steffanskirche in London.

Fleiß und Bemerkenskraft -- beseelt das Auge der sechs ersten Künstler; Genie das
Auge des letzten.

Es sind selten vordringende, erhabne Seelen, die mit diesen tiefen Augen; diesem
zurückgeschobnen obern Augenliede! Es sind nicht dumme, nicht schwache, es sind großen-
theils glückliche, aber keine große schöpfrische Genies! Selten Männer vom feinsten, sicher-
sten, edelsten, erhabensten Geschmack! aber treffliche Künstler, treffliche Aerzte, Bürgermeister
allenfalls! --

Jch möchte dieß Auge, das so tief, so verschoben ist -- das Künstlerauge nennen, weil
ich's an so vielen, vielen Künstlern wahrgenommen -- und ich möchte Knaben von zwölf bis vier-
zehn Jahren, die so ein Aug auszeichnet, zu Kunstprofessionen wiedmen. Sie würden gewiß
glücklich seyn. So viel ich hierüber beobachtet; alle Beobachtungen waren übereinstimmend.

Aber Wreens Gesicht zeigt mehr als den Künstler; zeigt den großen Mann! alles an
ihm -- das Einzele, wie das Gesammte -- Jn dem fadesten Umrisse, wie viel Geist und stille
Kraft, und Feinheit immer noch!

Dieß rechte halb zugeschloßne Auge, diese Linie, die den Stern des Auges zerschneidet
und halb deckt -- ist sicherlich Blick des originellen feinen Geistes.

Wo ich diesen auch bey wirklich sonst gemeinen Gesichtern, so gar unter breternen Stir-
nen bemerkt, war immer noch ungewöhnliche Feinheit des Geistes.

Wie viel entscheidender oder beredtsamer wird dann dieser Zug in einem Gesichte mit
dieser gewölbten Stirne, dieser kraftvollen Nase, diesem herrlichen Munde seyn?

Sonst
K k 3
zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
II.
Einige Umriſſe von Kuͤnſtlern.

Der Umriß auf dem naͤchſten Blatte iſt von einem Augsburgiſchen Mahler Schaupp, der
zweyte von Blendinger, der erſte auf dem folgenden dritten Blatte von Frey, einem trefflichen
Kupferſtecher, der zweyte und dritte auf demſelben Blatte von Ridinger, einem uͤberausgeſchick-
ten Thiermahler — das vierte Blatt enthaͤlt zween Dinglinger und zween Kupezky; das
fuͤnfte zween Umriſſe von Wreen, dem Erbauer der Paullus- und der Steffanskirche in London.

Fleiß und Bemerkenskraft — beſeelt das Auge der ſechs erſten Kuͤnſtler; Genie das
Auge des letzten.

Es ſind ſelten vordringende, erhabne Seelen, die mit dieſen tiefen Augen; dieſem
zuruͤckgeſchobnen obern Augenliede! Es ſind nicht dumme, nicht ſchwache, es ſind großen-
theils gluͤckliche, aber keine große ſchoͤpfriſche Genies! Selten Maͤnner vom feinſten, ſicher-
ſten, edelſten, erhabenſten Geſchmack! aber treffliche Kuͤnſtler, treffliche Aerzte, Buͤrgermeiſter
allenfalls! —

Jch moͤchte dieß Auge, das ſo tief, ſo verſchoben iſt — das Kuͤnſtlerauge nennen, weil
ich's an ſo vielen, vielen Kuͤnſtlern wahrgenommen — und ich moͤchte Knaben von zwoͤlf bis vier-
zehn Jahren, die ſo ein Aug auszeichnet, zu Kunſtprofeſſionen wiedmen. Sie wuͤrden gewiß
gluͤcklich ſeyn. So viel ich hieruͤber beobachtet; alle Beobachtungen waren uͤbereinſtimmend.

Aber Wreens Geſicht zeigt mehr als den Kuͤnſtler; zeigt den großen Mann! alles an
ihm — das Einzele, wie das Geſammte — Jn dem fadeſten Umriſſe, wie viel Geiſt und ſtille
Kraft, und Feinheit immer noch!

Dieß rechte halb zugeſchloßne Auge, dieſe Linie, die den Stern des Auges zerſchneidet
und halb deckt — iſt ſicherlich Blick des originellen feinen Geiſtes.

Wo ich dieſen auch bey wirklich ſonſt gemeinen Geſichtern, ſo gar unter breternen Stir-
nen bemerkt, war immer noch ungewoͤhnliche Feinheit des Geiſtes.

Wie viel entſcheidender oder beredtſamer wird dann dieſer Zug in einem Geſichte mit
dieſer gewoͤlbten Stirne, dieſer kraftvollen Naſe, dieſem herrlichen Munde ſeyn?

Sonſt
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[253/0399] zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies. II. Einige Umriſſe von Kuͤnſtlern. Der Umriß auf dem naͤchſten Blatte iſt von einem Augsburgiſchen Mahler Schaupp, der zweyte von Blendinger, der erſte auf dem folgenden dritten Blatte von Frey, einem trefflichen Kupferſtecher, der zweyte und dritte auf demſelben Blatte von Ridinger, einem uͤberausgeſchick- ten Thiermahler — das vierte Blatt enthaͤlt zween Dinglinger und zween Kupezky; das fuͤnfte zween Umriſſe von Wreen, dem Erbauer der Paullus- und der Steffanskirche in London. Fleiß und Bemerkenskraft — beſeelt das Auge der ſechs erſten Kuͤnſtler; Genie das Auge des letzten. Es ſind ſelten vordringende, erhabne Seelen, die mit dieſen tiefen Augen; dieſem zuruͤckgeſchobnen obern Augenliede! Es ſind nicht dumme, nicht ſchwache, es ſind großen- theils gluͤckliche, aber keine große ſchoͤpfriſche Genies! Selten Maͤnner vom feinſten, ſicher- ſten, edelſten, erhabenſten Geſchmack! aber treffliche Kuͤnſtler, treffliche Aerzte, Buͤrgermeiſter allenfalls! — Jch moͤchte dieß Auge, das ſo tief, ſo verſchoben iſt — das Kuͤnſtlerauge nennen, weil ich's an ſo vielen, vielen Kuͤnſtlern wahrgenommen — und ich moͤchte Knaben von zwoͤlf bis vier- zehn Jahren, die ſo ein Aug auszeichnet, zu Kunſtprofeſſionen wiedmen. Sie wuͤrden gewiß gluͤcklich ſeyn. So viel ich hieruͤber beobachtet; alle Beobachtungen waren uͤbereinſtimmend. Aber Wreens Geſicht zeigt mehr als den Kuͤnſtler; zeigt den großen Mann! alles an ihm — das Einzele, wie das Geſammte — Jn dem fadeſten Umriſſe, wie viel Geiſt und ſtille Kraft, und Feinheit immer noch! Dieß rechte halb zugeſchloßne Auge, dieſe Linie, die den Stern des Auges zerſchneidet und halb deckt — iſt ſicherlich Blick des originellen feinen Geiſtes. Wo ich dieſen auch bey wirklich ſonſt gemeinen Geſichtern, ſo gar unter breternen Stir- nen bemerkt, war immer noch ungewoͤhnliche Feinheit des Geiſtes. Wie viel entſcheidender oder beredtſamer wird dann dieſer Zug in einem Geſichte mit dieſer gewoͤlbten Stirne, dieſer kraftvollen Naſe, dieſem herrlichen Munde ſeyn? Sonſt K k 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/399>, abgerufen am 21.11.2024.