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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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V. Fragment.
nen Organum -- (so weit nämlich unsere bisherigen Beobachtungen reichen; ich sage Beob-
achtungen,
denn was philosophische Vermuthungen oder göttliche Offenbarungen uns weiter hier-
über mehr oder weniger klar und bestimmt sagen, das läßt der bloß beobachtende Naturforscher,
als solcher, auf der Seite) Alles also an dem Menschen ist, bloßen klaren Beobachtungen zufol-
ge -- physisch. Der Mensch ist im Ganzen, ist in allen seinen Theilen, nach allen seinen Kräf-
ten und Eigenschaften, in so fern er beobachtet werden kann, bloß ein physisches Wesen. Sein
Verstand ist nichts mehr, sein intellectuelles Leben ist hin, wenn gewisse Gegenden und Fibern sei-
nes Gehirns verletzt, oder gekränkt werden. Er wird animalisch leben können, gesund seyn kön-
nen -- und sein intellectuelles Leben wird ihn seyn -- Der allermoralischte Mensch wird der un-
moralischte werden können, das heißt, alle Begehrungskräfte des Menschen werden zum Scha-
den, zur Zerrüttung anderer geschäfftig seyn, oder sein moralisches Gefühl wird gleichsam stocken,
wenn gewisse Unordnungen in seinem Unterleibe oder seinem Kopfe herrschen. Man haue einem
Menschen die Hand, man stoße ihm die Füße ab -- man verstümmle ihn von außen, und verwun-
de viele Theile seines Körpers -- sein animalisches Leben wird sich vermindern, seine physische
Wirksamkeit sich einschränken -- -- aber sein intellectuelles und moralisches wird dasselbe bleiben
können. Jedennoch ist wiederum wahr, daß ungeachtet jedes gewissermaßen für sich allein zu be-
stehen, und von dem andern unabhängig zu seyn scheint, dennoch der genauste Zusammenhang un-
ter ihnen ist, und Eins mit dem andern in Eins zusammen fließt; daß Speise und Trank, Schlaf
und Erhohlung alle drey stärken und erfrischen; Unmäßigkeit, Schlaf, Ohnmacht alle drey zu-
gleich -- beynahe auslöschen können. Es ist gewiß, daß dasselbe Blut aus dem Herzen in den
Kopf steigt, und aus dem Kopfe ins Herz zurück kehrt. Gewiß, daß die Nerven und Fibern
des Herzens und des Kopfes in der genauesten Verbindung stehen, einen analogischen Character
haben -- mithin, daß sich vom Geblüte im Haupte auf das Geblüt im Herzen, von dem Cha-
racter der Nerven und Muskeln des Angesichts auf das Jnnere der Brust des Menschen schließen
läßt. Diese gewisse Erfahrungswahrheit ist in Absicht auf die Kenntniß des Menschen aus seinem
Aeußern von der größten und augenscheinlichsten Wichtigkeit, und überhaupt alles, was wir bis
dahin gesagt haben, leitet uns in dieser Absicht zu wichtigen Grundsätzen.

Wer

V. Fragment.
nen Organum — (ſo weit naͤmlich unſere bisherigen Beobachtungen reichen; ich ſage Beob-
achtungen,
denn was philoſophiſche Vermuthungen oder goͤttliche Offenbarungen uns weiter hier-
uͤber mehr oder weniger klar und beſtimmt ſagen, das laͤßt der bloß beobachtende Naturforſcher,
als ſolcher, auf der Seite) Alles alſo an dem Menſchen iſt, bloßen klaren Beobachtungen zufol-
ge — phyſiſch. Der Menſch iſt im Ganzen, iſt in allen ſeinen Theilen, nach allen ſeinen Kraͤf-
ten und Eigenſchaften, in ſo fern er beobachtet werden kann, bloß ein phyſiſches Weſen. Sein
Verſtand iſt nichts mehr, ſein intellectuelles Leben iſt hin, wenn gewiſſe Gegenden und Fibern ſei-
nes Gehirns verletzt, oder gekraͤnkt werden. Er wird animaliſch leben koͤnnen, geſund ſeyn koͤn-
nen — und ſein intellectuelles Leben wird ihn ſeyn — Der allermoraliſchte Menſch wird der un-
moraliſchte werden koͤnnen, das heißt, alle Begehrungskraͤfte des Menſchen werden zum Scha-
den, zur Zerruͤttung anderer geſchaͤfftig ſeyn, oder ſein moraliſches Gefuͤhl wird gleichſam ſtocken,
wenn gewiſſe Unordnungen in ſeinem Unterleibe oder ſeinem Kopfe herrſchen. Man haue einem
Menſchen die Hand, man ſtoße ihm die Fuͤße ab — man verſtuͤmmle ihn von außen, und verwun-
de viele Theile ſeines Koͤrpers — ſein animaliſches Leben wird ſich vermindern, ſeine phyſiſche
Wirkſamkeit ſich einſchraͤnken — — aber ſein intellectuelles und moraliſches wird daſſelbe bleiben
koͤnnen. Jedennoch iſt wiederum wahr, daß ungeachtet jedes gewiſſermaßen fuͤr ſich allein zu be-
ſtehen, und von dem andern unabhaͤngig zu ſeyn ſcheint, dennoch der genauſte Zuſammenhang un-
ter ihnen iſt, und Eins mit dem andern in Eins zuſammen fließt; daß Speiſe und Trank, Schlaf
und Erhohlung alle drey ſtaͤrken und erfriſchen; Unmaͤßigkeit, Schlaf, Ohnmacht alle drey zu-
gleich — beynahe ausloͤſchen koͤnnen. Es iſt gewiß, daß daſſelbe Blut aus dem Herzen in den
Kopf ſteigt, und aus dem Kopfe ins Herz zuruͤck kehrt. Gewiß, daß die Nerven und Fibern
des Herzens und des Kopfes in der genaueſten Verbindung ſtehen, einen analogiſchen Character
haben — mithin, daß ſich vom Gebluͤte im Haupte auf das Gebluͤt im Herzen, von dem Cha-
racter der Nerven und Muſkeln des Angeſichts auf das Jnnere der Bruſt des Menſchen ſchließen
laͤßt. Dieſe gewiſſe Erfahrungswahrheit iſt in Abſicht auf die Kenntniß des Menſchen aus ſeinem
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dahin geſagt haben, leitet uns in dieſer Abſicht zu wichtigen Grundſaͤtzen.

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[36/0060] V. Fragment. nen Organum — (ſo weit naͤmlich unſere bisherigen Beobachtungen reichen; ich ſage Beob- achtungen, denn was philoſophiſche Vermuthungen oder goͤttliche Offenbarungen uns weiter hier- uͤber mehr oder weniger klar und beſtimmt ſagen, das laͤßt der bloß beobachtende Naturforſcher, als ſolcher, auf der Seite) Alles alſo an dem Menſchen iſt, bloßen klaren Beobachtungen zufol- ge — phyſiſch. Der Menſch iſt im Ganzen, iſt in allen ſeinen Theilen, nach allen ſeinen Kraͤf- ten und Eigenſchaften, in ſo fern er beobachtet werden kann, bloß ein phyſiſches Weſen. Sein Verſtand iſt nichts mehr, ſein intellectuelles Leben iſt hin, wenn gewiſſe Gegenden und Fibern ſei- nes Gehirns verletzt, oder gekraͤnkt werden. Er wird animaliſch leben koͤnnen, geſund ſeyn koͤn- nen — und ſein intellectuelles Leben wird ihn ſeyn — Der allermoraliſchte Menſch wird der un- moraliſchte werden koͤnnen, das heißt, alle Begehrungskraͤfte des Menſchen werden zum Scha- den, zur Zerruͤttung anderer geſchaͤfftig ſeyn, oder ſein moraliſches Gefuͤhl wird gleichſam ſtocken, wenn gewiſſe Unordnungen in ſeinem Unterleibe oder ſeinem Kopfe herrſchen. Man haue einem Menſchen die Hand, man ſtoße ihm die Fuͤße ab — man verſtuͤmmle ihn von außen, und verwun- de viele Theile ſeines Koͤrpers — ſein animaliſches Leben wird ſich vermindern, ſeine phyſiſche Wirkſamkeit ſich einſchraͤnken — — aber ſein intellectuelles und moraliſches wird daſſelbe bleiben koͤnnen. Jedennoch iſt wiederum wahr, daß ungeachtet jedes gewiſſermaßen fuͤr ſich allein zu be- ſtehen, und von dem andern unabhaͤngig zu ſeyn ſcheint, dennoch der genauſte Zuſammenhang un- ter ihnen iſt, und Eins mit dem andern in Eins zuſammen fließt; daß Speiſe und Trank, Schlaf und Erhohlung alle drey ſtaͤrken und erfriſchen; Unmaͤßigkeit, Schlaf, Ohnmacht alle drey zu- gleich — beynahe ausloͤſchen koͤnnen. Es iſt gewiß, daß daſſelbe Blut aus dem Herzen in den Kopf ſteigt, und aus dem Kopfe ins Herz zuruͤck kehrt. Gewiß, daß die Nerven und Fibern des Herzens und des Kopfes in der genaueſten Verbindung ſtehen, einen analogiſchen Character haben — mithin, daß ſich vom Gebluͤte im Haupte auf das Gebluͤt im Herzen, von dem Cha- racter der Nerven und Muſkeln des Angeſichts auf das Jnnere der Bruſt des Menſchen ſchließen laͤßt. Dieſe gewiſſe Erfahrungswahrheit iſt in Abſicht auf die Kenntniß des Menſchen aus ſeinem Aeußern von der groͤßten und augenſcheinlichſten Wichtigkeit, und uͤberhaupt alles, was wir bis dahin geſagt haben, leitet uns in dieſer Abſicht zu wichtigen Grundſaͤtzen. Wer

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/60>, abgerufen am 21.11.2024.