Sechstes Fragment. Von dem Bemerken der Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten überhaupt.
Die menschliche Natur ist zugleich vollkommen und unvollkommen; sie ist noch nicht, was sie werden kann, und was sie seyn wird -- aber sie ist, was sie in ihrer gegenwärtigen Lage (alle und jede Bestimmungsgründe zusammengenommen) seyn kann. Wir können sie nicht rich- tig -- oder vielmehr, wir können sie richtig, aber nur von Einer Seite, nur aus unserer Lage und unserm Gesichtspunkt -- der wahrlich nichts als Punkt ist, beurtheilen. Aus diesem Ge- sichtspunkt erblicken wir an jedem Menschen Vollkommenheiten und Fehler. Gehen wir auf Fehler aus; so finden wir unzählige. Suchen wir Vollkommenheiten, so finden wir (so unbe- greiflich es manchem vorkommen wird, dreiste behaupt ichs) an jedem, auch dem fehlervollsten Menschen, -- ebenfalls unzählige; -- die es vermuthlich in den Augen aller vernünftigen We- sen sind -- da ich hingegen zum Theil zweifele -- ob alles, was uns fehlerhaft und unvollkom- men vorkommt, höhern Wesen, die mehrere Verhältnisse und Verbindungen der menschlichen Na- tur wahrnehmen und überschauen können -- nicht ganz anders vorkommen müsse. Je mehr wir die Natur erforschen (und gehört der Mensch nicht auch zur Natur? ist er nicht das vollkom- menste, ich mag nicht sagen: Werk der Natur? Jst er er nicht die vollkommenste aller uns durch die Sinne bekannten Naturen? - - -) Je mehr wir die Natur erforschen, destomehr bemerken wir, Ordnung, Verhältniß, Zweck, wohlthätige Absicht: und wo das ist, ist da nicht Vollkommenheit? und wo wirs noch nicht sehen, dürfen wirs nicht auf das, was wir sehen, glauben? und kann der, der das nicht glaubt, eine Gottheit glauben? Kann die höchste Weisheit das geringste überflüßig machen? Die höchste Macht das geringste un- zureichend lassen? Die höchste Güte die geringste Disharmonie in dem dulden, was da ist?
Unvollkommenheit bleibt indessen uns immer ein unentbehrliches Wort. Unvollkom- menheit bleibt immer in Vergleichung höherer Vollkommenheit -- Mangel. Ein Kind ist ein
vollkom-
VI.Fragment. Von dem Bemerken
Sechſtes Fragment. Von dem Bemerken der Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten uͤberhaupt.
Die menſchliche Natur iſt zugleich vollkommen und unvollkommen; ſie iſt noch nicht, was ſie werden kann, und was ſie ſeyn wird — aber ſie iſt, was ſie in ihrer gegenwaͤrtigen Lage (alle und jede Beſtimmungsgruͤnde zuſammengenommen) ſeyn kann. Wir koͤnnen ſie nicht rich- tig — oder vielmehr, wir koͤnnen ſie richtig, aber nur von Einer Seite, nur aus unſerer Lage und unſerm Geſichtspunkt — der wahrlich nichts als Punkt iſt, beurtheilen. Aus dieſem Ge- ſichtspunkt erblicken wir an jedem Menſchen Vollkommenheiten und Fehler. Gehen wir auf Fehler aus; ſo finden wir unzaͤhlige. Suchen wir Vollkommenheiten, ſo finden wir (ſo unbe- greiflich es manchem vorkommen wird, dreiſte behaupt ichs) an jedem, auch dem fehlervollſten Menſchen, — ebenfalls unzaͤhlige; — die es vermuthlich in den Augen aller vernuͤnftigen We- ſen ſind — da ich hingegen zum Theil zweifele — ob alles, was uns fehlerhaft und unvollkom- men vorkommt, hoͤhern Weſen, die mehrere Verhaͤltniſſe und Verbindungen der menſchlichen Na- tur wahrnehmen und uͤberſchauen koͤnnen — nicht ganz anders vorkommen muͤſſe. Je mehr wir die Natur erforſchen (und gehoͤrt der Menſch nicht auch zur Natur? iſt er nicht das vollkom- menſte, ich mag nicht ſagen: Werk der Natur? Jſt er er nicht die vollkommenſte aller uns durch die Sinne bekannten Naturen? ‒ ‒ ‒) Je mehr wir die Natur erforſchen, deſtomehr bemerken wir, Ordnung, Verhaͤltniß, Zweck, wohlthaͤtige Abſicht: und wo das iſt, iſt da nicht Vollkommenheit? und wo wirs noch nicht ſehen, duͤrfen wirs nicht auf das, was wir ſehen, glauben? und kann der, der das nicht glaubt, eine Gottheit glauben? Kann die hoͤchſte Weisheit das geringſte uͤberfluͤßig machen? Die hoͤchſte Macht das geringſte un- zureichend laſſen? Die hoͤchſte Guͤte die geringſte Disharmonie in dem dulden, was da iſt?
Unvollkommenheit bleibt indeſſen uns immer ein unentbehrliches Wort. Unvollkom- menheit bleibt immer in Vergleichung hoͤherer Vollkommenheit — Mangel. Ein Kind iſt ein
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VI. Fragment. Von dem Bemerken
Sechſtes Fragment.
Von dem Bemerken der Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten
uͤberhaupt.
Die menſchliche Natur iſt zugleich vollkommen und unvollkommen; ſie iſt noch nicht,
was ſie werden kann, und was ſie ſeyn wird — aber ſie iſt, was ſie in ihrer gegenwaͤrtigen Lage
(alle und jede Beſtimmungsgruͤnde zuſammengenommen) ſeyn kann. Wir koͤnnen ſie nicht rich-
tig — oder vielmehr, wir koͤnnen ſie richtig, aber nur von Einer Seite, nur aus unſerer Lage
und unſerm Geſichtspunkt — der wahrlich nichts als Punkt iſt, beurtheilen. Aus dieſem Ge-
ſichtspunkt erblicken wir an jedem Menſchen Vollkommenheiten und Fehler. Gehen wir auf
Fehler aus; ſo finden wir unzaͤhlige. Suchen wir Vollkommenheiten, ſo finden wir (ſo unbe-
greiflich es manchem vorkommen wird, dreiſte behaupt ichs) an jedem, auch dem fehlervollſten
Menſchen, — ebenfalls unzaͤhlige; — die es vermuthlich in den Augen aller vernuͤnftigen We-
ſen ſind — da ich hingegen zum Theil zweifele — ob alles, was uns fehlerhaft und unvollkom-
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tur wahrnehmen und uͤberſchauen koͤnnen — nicht ganz anders vorkommen muͤſſe. Je mehr
wir die Natur erforſchen (und gehoͤrt der Menſch nicht auch zur Natur? iſt er nicht das vollkom-
menſte, ich mag nicht ſagen: Werk der Natur? Jſt er er nicht die vollkommenſte aller uns durch
die Sinne bekannten Naturen? ‒ ‒ ‒) Je mehr wir die Natur erforſchen, deſtomehr bemerken
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Vollkommenheit? und wo wirs noch nicht ſehen, duͤrfen wirs nicht auf das, was wir ſehen,
glauben? und kann der, der das nicht glaubt, eine Gottheit glauben? Kann die hoͤchſte
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da iſt?
Unvollkommenheit bleibt indeſſen uns immer ein unentbehrliches Wort. Unvollkom-
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/62>, abgerufen am 16.02.2025.
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