Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.VI. Fragment. Von dem Bemerken unverwerflich ist, zu erniedrigen. -- Lerne erst die Vollkommenheiten der menschlichen Naturkennen, und dann, wenn du willst, magst du auch ihre Unvollkommenheiten kennen ler- nen. -- -- Jch denke aber, wenn ich eine Goldgrube finde, so laß ich diese nicht ungenutzt liegen, um tausend Kothpfützen nachzugehen. Jst das Auge geübt, Vollkommenheiten zu bemerken, so ist es auch geübt, Voll- Aber
VI. Fragment. Von dem Bemerken unverwerflich iſt, zu erniedrigen. — Lerne erſt die Vollkommenheiten der menſchlichen Naturkennen, und dann, wenn du willſt, magſt du auch ihre Unvollkommenheiten kennen ler- nen. — — Jch denke aber, wenn ich eine Goldgrube finde, ſo laß ich dieſe nicht ungenutzt liegen, um tauſend Kothpfuͤtzen nachzugehen. Jſt das Auge geuͤbt, Vollkommenheiten zu bemerken, ſo iſt es auch geuͤbt, Voll- Aber
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VI. Fragment. Von dem Bemerken
unverwerflich iſt, zu erniedrigen. — Lerne erſt die Vollkommenheiten der menſchlichen Natur
kennen, und dann, wenn du willſt, magſt du auch ihre Unvollkommenheiten kennen ler-
nen. — — Jch denke aber, wenn ich eine Goldgrube finde, ſo laß ich dieſe nicht ungenutzt
liegen, um tauſend Kothpfuͤtzen nachzugehen.
Jſt das Auge geuͤbt, Vollkommenheiten zu bemerken, ſo iſt es auch geuͤbt, Voll-
kommenheiten zu ſuchen. Schaͤrft ſich freylich mit der Empfindſamkeit fuͤrs Schoͤne und
Vollkommene zugleich auch Ekel und Widerwillen vor allem Schlechten und Unvollkomme-
nen — ſo ſchaͤrft ſich dennoch das Auge, oft da die liebenswuͤrdigſten Vollkommenheiten zu
entdecken, wo das fluͤchtige Auge vielleicht nichts als Truͤmmern und Geſtraͤuche wahrzuneh-
men faͤhig iſt. Allenthalben, wo andere Nichts ſehen, oder Langeweile haben, oder nur Un-
vollkommenheiten ſehen, ſieht das Schoͤnheit ſuchende Auge, Schoͤnheit, Ordnung, Spuren
des Ebenbilds der Gottheit, und ſchoͤpft Freude, die unerſchoͤpflich iſt; allenthalben findet es
ſeinen Gott, allenthalben den Einzigen, allenthalben denſelben, der es beſeelt und erleuch-
tet, allenthalben unter allen Ruinen der Menſchheit noch Fleiſch von ſeinem Fleiſch und Ge-
bein von ſeinen Gebeinen. Der weiſe Beobachter wird zwar das Schwache, das Unedle, das
Unvollkommene nicht uͤberſehen; wird nicht ſogleich die Augen davor zuſchließen, wird ſich auch
die Charactere der Dummheit und des Laſters einzupraͤgen ſuchen, aber dieſer Beobachter wird
den Menſchen nie von dem Beobachter trennen, ſein Herz wird dabey ein Menſchenherz, ein
Bruderherz bleiben. Er wird ſich mit den wirklichen Vollkommenheiten, und mit den noch
unentwickelten Anlagen zu mehreren Vollkommenheiten, die er mit der Begierde eines Durſten-
den aufſuchen wird, troͤſten und ſtaͤrken. Er wird ſich durch die oͤftere Beobachtung des Un-
edlen und Unvollkommenen deſto beſſer in den Stand ſetzen, die entgegenſtehenden Schoͤnheiten
leichter aufzuſuchen, ſtaͤrker und lebendiger zu empfinden; — und, was mehr iſt als alles
dieß, — ſich nach und nach der groͤßten aller Kuͤnſte, der Verbeſſerung der menſchlichen Natur,
mit jedem Schritte naͤhern, um welchen er der Kenntniß ihrer Unvollkommenheiten naͤher
koͤmmt. Der weiſe Arzt, wie viel hat der ſchon gewonnen, wenn er die Kennzeichen der Krank-
heit aufgefunden, und nun eigentlich weiß, wogegen er zu kaͤmpfen hat.
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