Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.Von der Wahrheit der Physiognomie. Behauptung: Freude und Traurigkeit, Wollust und Schmerz, Liebe und Haß, hätten diesel-ben, das ist, gar keine Kennzeichen im Aeußerlichen des Menschen; und das behauptet der, der die Physiognomik ins Reich der Träumereyen verbannet. Er verkehrt alle Ordnung und Verknüpfung der Dinge, wodurch sich die ewige Weisheit dem Verstande so preiswürdig macht. Man kann es nicht genug sagen, die Willkührlichkeit ist die Philosophie der Tho- Jch habe schon gesagt, daß ich mir in diesem Fragmente nicht selber vorgreifen wolle; Alle Menschen, (so viel ist unwidersprechlich,) urtheilen in allen, allen, allen -- Din- Welcher Kaufmann in der Welt beurtheilt die Waaren, die er kauft, wenn er sei- zur
Von der Wahrheit der Phyſiognomie. Behauptung: Freude und Traurigkeit, Wolluſt und Schmerz, Liebe und Haß, haͤtten dieſel-ben, das iſt, gar keine Kennzeichen im Aeußerlichen des Menſchen; und das behauptet der, der die Phyſiognomik ins Reich der Traͤumereyen verbannet. Er verkehrt alle Ordnung und Verknuͤpfung der Dinge, wodurch ſich die ewige Weisheit dem Verſtande ſo preiswuͤrdig macht. Man kann es nicht genug ſagen, die Willkuͤhrlichkeit iſt die Philoſophie der Tho- Jch habe ſchon geſagt, daß ich mir in dieſem Fragmente nicht ſelber vorgreifen wolle; Alle Menſchen, (ſo viel iſt unwiderſprechlich,) urtheilen in allen, allen, allen — Din- Welcher Kaufmann in der Welt beurtheilt die Waaren, die er kauft, wenn er ſei- zur
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0071" n="47"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Von der Wahrheit der Phyſiognomie.</hi></fw><lb/> Behauptung: Freude und Traurigkeit, Wolluſt und Schmerz, Liebe und Haß, haͤtten dieſel-<lb/> ben, das iſt, gar keine Kennzeichen im Aeußerlichen des Menſchen; und das behauptet der,<lb/> der die Phyſiognomik ins Reich der Traͤumereyen verbannet. Er verkehrt alle Ordnung und<lb/> Verknuͤpfung der Dinge, wodurch ſich die ewige Weisheit dem Verſtande ſo preiswuͤrdig macht.</p><lb/> <p>Man kann es nicht genug ſagen, die Willkuͤhrlichkeit iſt die Philoſophie der Tho-<lb/> ren, die Peſt fuͤr die geſunde Naturlehre, Philoſophie und Religion. Dieſe allenthalben zu<lb/> verbannen, iſt das Werk des aͤchten Naturforſchers, des aͤchten Weltweiſen, und des aͤchten<lb/> Theologen.</p><lb/> <p>Jch habe ſchon geſagt, daß ich mir in dieſem Fragmente nicht ſelber vorgreifen wolle;<lb/> aber folgendes muß ich noch ſagen.</p><lb/> <p>Alle Menſchen, (ſo viel iſt unwiderſprechlich,) urtheilen in allen, allen, allen — Din-<lb/> gen nach ihrer Phyſiognomie, ihrer Aeußerlichkeit, ihrer jedesmaligen Oberflaͤche. Von dieſer<lb/> ſchließen ſie durchgehends, taͤglich, augenblicklich auf ihre innere Beſchaffenheit. Jch muß die<lb/> allertaͤglichſten Dinge ſagen, um eine Sache zu beweiſen, die ſo wenig Beweiſe beduͤrfen ſollte,<lb/> als unſere Exiſtenz. Aber, ich muß den Schwachen ſchwach, faſt moͤcht' ich ſagen, den Tho-<lb/> ren ein Thor werden, um der Wahrheit willen.</p><lb/> <p>Welcher <hi rendition="#fr">Kaufmann</hi> in der Welt beurtheilt die Waaren, die er kauft, wenn er ſei-<lb/> nen Mann noch nicht kennt, anders, als nach ihrer Phyſiognomie? Anders, als nach dieſer,<lb/> wenn er ſie auf den Mann hin gekauft hat, und ſeiner Erwartung gemaͤß, oder anders, als<lb/> ſeine Erwartung findet? Beurtheilt er ſie anders, als nach ihrer Farbe? Jhrer Feinheit?<lb/> Jhrer Oberflaͤche? Jhrer Aeußerlichkeit? Jhrer Phyſiognomie? Alles Geld nach ſeiner Phy-<lb/> ſiognomie? Warum nimmt er den Einen Louisd'or an, wirft den andern weg? Warum<lb/> wiegt er den dritten auf der Hand? Um ſeiner bleichern oder roͤthern Farbe, ſeines Gepraͤges,<lb/> ſeiner Aeußerlichkeit, ſeiner Phyſiognomie willen? — Kommt ein <hi rendition="#fr">Unbekannter,</hi> der ihm et-<lb/> was verkaufen, oder abkaufen will, auf ſein Comtoir, wird er ihn nicht anſehen? Nichts auf<lb/> ſein Geſicht rechnen? Wird er nicht, kaum mag er weg ſeyn, ein Urtheil uͤber ihn faͤllen?<lb/> „Der Mann hat ein ehrliches Geſicht;“ oder: „Er hat ein ſchlimmes Paar Augen;“ oder:<lb/> „Er hat was Widriges oder Einnehmendes?“ Urtheil' er richtig, oder unrichtig, was thuts<lb/> <fw place="bottom" type="catch">zur</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [47/0071]
Von der Wahrheit der Phyſiognomie.
Behauptung: Freude und Traurigkeit, Wolluſt und Schmerz, Liebe und Haß, haͤtten dieſel-
ben, das iſt, gar keine Kennzeichen im Aeußerlichen des Menſchen; und das behauptet der,
der die Phyſiognomik ins Reich der Traͤumereyen verbannet. Er verkehrt alle Ordnung und
Verknuͤpfung der Dinge, wodurch ſich die ewige Weisheit dem Verſtande ſo preiswuͤrdig macht.
Man kann es nicht genug ſagen, die Willkuͤhrlichkeit iſt die Philoſophie der Tho-
ren, die Peſt fuͤr die geſunde Naturlehre, Philoſophie und Religion. Dieſe allenthalben zu
verbannen, iſt das Werk des aͤchten Naturforſchers, des aͤchten Weltweiſen, und des aͤchten
Theologen.
Jch habe ſchon geſagt, daß ich mir in dieſem Fragmente nicht ſelber vorgreifen wolle;
aber folgendes muß ich noch ſagen.
Alle Menſchen, (ſo viel iſt unwiderſprechlich,) urtheilen in allen, allen, allen — Din-
gen nach ihrer Phyſiognomie, ihrer Aeußerlichkeit, ihrer jedesmaligen Oberflaͤche. Von dieſer
ſchließen ſie durchgehends, taͤglich, augenblicklich auf ihre innere Beſchaffenheit. Jch muß die
allertaͤglichſten Dinge ſagen, um eine Sache zu beweiſen, die ſo wenig Beweiſe beduͤrfen ſollte,
als unſere Exiſtenz. Aber, ich muß den Schwachen ſchwach, faſt moͤcht' ich ſagen, den Tho-
ren ein Thor werden, um der Wahrheit willen.
Welcher Kaufmann in der Welt beurtheilt die Waaren, die er kauft, wenn er ſei-
nen Mann noch nicht kennt, anders, als nach ihrer Phyſiognomie? Anders, als nach dieſer,
wenn er ſie auf den Mann hin gekauft hat, und ſeiner Erwartung gemaͤß, oder anders, als
ſeine Erwartung findet? Beurtheilt er ſie anders, als nach ihrer Farbe? Jhrer Feinheit?
Jhrer Oberflaͤche? Jhrer Aeußerlichkeit? Jhrer Phyſiognomie? Alles Geld nach ſeiner Phy-
ſiognomie? Warum nimmt er den Einen Louisd'or an, wirft den andern weg? Warum
wiegt er den dritten auf der Hand? Um ſeiner bleichern oder roͤthern Farbe, ſeines Gepraͤges,
ſeiner Aeußerlichkeit, ſeiner Phyſiognomie willen? — Kommt ein Unbekannter, der ihm et-
was verkaufen, oder abkaufen will, auf ſein Comtoir, wird er ihn nicht anſehen? Nichts auf
ſein Geſicht rechnen? Wird er nicht, kaum mag er weg ſeyn, ein Urtheil uͤber ihn faͤllen?
„Der Mann hat ein ehrliches Geſicht;“ oder: „Er hat ein ſchlimmes Paar Augen;“ oder:
„Er hat was Widriges oder Einnehmendes?“ Urtheil' er richtig, oder unrichtig, was thuts
zur
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |