Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.IX. Fragment. Von der Harmonie 1. Für's erste trifft diese Einwendung meinen Satz nicht recht. Jch sage nur: Tu- 2. Für's zweyte; von der Erfahrung, die man uns entgegen setzen will, geht, wenn Und
IX. Fragment. Von der Harmonie 1. Fuͤr's erſte trifft dieſe Einwendung meinen Satz nicht recht. Jch ſage nur: Tu- 2. Fuͤr's zweyte; von der Erfahrung, die man uns entgegen ſetzen will, geht, wenn Und
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IX. Fragment. Von der Harmonie
1. Fuͤr's erſte trifft dieſe Einwendung meinen Satz nicht recht. Jch ſage nur: Tu-
gend verſchoͤnert; Laſter macht haͤßlich: — Jch behaupte wohl nicht: Tugend allein iſt's,
von der alle Schoͤnheit des menſchlichen Angeſichts gewirkt wird, Laſter allein iſt's, das
haͤßlich macht. Wer wollte das behaupten? Wer laͤugnen, daß es nicht noch andere, naͤhe-
re, unmittelbare Urſachen der Verſchoͤnerung und Entſtaltung des menſchlichen Angeſichts gebe?
Es liegt am Tage! Wer doͤrft's, wer wollt's laͤugnen, daß Verſtandeseigenſchaften, daß am
allermeiſten urſpruͤngliche Bildung aus Mutterleibe; ferner die von dem Zoͤglinge ſelbſt unab-
haͤngige Erziehung, Lebensumſtaͤnde, Krankheiten, Zufaͤlle, Beruf, Klima u. ſ. f. ſo viele
naͤchſte Urſachen der Schoͤnheit und Haͤßlichkeit der Menſchen ſind, und abgeben koͤnnen? Voͤl-
lig analogiſch iſt meine Behauptung mit dem unlaͤugbaren Satze: „Tugend befoͤrdert die aͤußere
„Wohlfahrt des Menſchen, und Laſter zerſtoͤrt ſie.“ Wird's nun Einwendung gegen dieſen
Satz ſeyn: „Es giebt doch viele hundert Tugendhafte, die ungluͤcklich, und Laſterhafte, die
„gluͤcklich ſind?“ Will man mit der erſten allgemeinen Behauptung mehr ſagen, als etwa:
„zum Gluͤcke oder Ungluͤcke des Menſchen ſind zwar viele andere weſentlich mitwirkende Ur-
„ſachen, als nur ſeine Tugend oder Laſterhaftigkeit; ſeine Moralitaͤt aber iſt dennoch neben
„vielen andern auch eine der wichtigſten und weſentlichſten Urſachen und Mittel.“ Gerade ſo
nun auch mit unſerm Gegenſtande: Tugend verſchoͤnert; Laſter macht haͤßlich; aber ſie ſind es
nicht allein, die auf Schoͤnheit und Haͤßlichkeit Einfluß haben.
2. Fuͤr's zweyte; von der Erfahrung, die man uns entgegen ſetzen will, geht, wenn
wir's naͤher betrachten, auch noch was ab! Ja, ſie fuͤhrt, glaub' ich, was mit ſich, das
wohl eher noch unſere Behauptung beſtaͤtigen hilft. Erfahren wir nicht oft, und rufen aus:
„Ein ſchoͤnes Frauenzimmer, ich laß' es gelten: aber mich nimmt ſie gar nicht ein!“ Oder
wohl gar: „Jch koͤnnte ſie nicht ausſtehen!“ Und hingegen, wie oft: „Ein haͤßlicher Menſch,
„doch hat er, trotz aller ſeiner Haͤßlichkeit, im erſten Augenblick einen angenehmen Eindruck
„auf mich gemacht; ich fuͤhlte gleich, daß mir recht wohl um ihn ſeyn koͤnnte“ u. ſ. w. Und
bey der Unterſuchung findt ſich's, daß gerade jene Schoͤne, die wir nicht ausſtehen koͤnnen,
und jene Haͤßlichkeit, die wir lieben muͤſſen, durch die haͤßlichen oder liebenswuͤrdigen Eigenſchaf-
ten, die ſich auf ihrem Antlitze ausdruͤcken, dieſe Antipathie und Sympathie erwecken.
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